Saint Omer ist ein französisches Filmdrama von Alice Diop, das am 7. September 2022 bei den Internationalen Filmfestspielen von Venedig seine Premiere feierte, wo der Film im Wettbewerb um den Goldenen Löwen konkurriert. Das Werk wurde durch einen im Jahr 2013 in Frankreich begangenen Kindsmord inspiriert. Saint Omer wurde von Frankreich als Beitrag für die Oscarverleihung 2023 als bester Internationaler Film eingereicht.
Die Professorin und Schriftstellerin Rama reist nach Saint-Omer, einer kleinen Stadt in Nordfrankreich, um dem Prozess gegen Laurence Coly beizuwohnen, die 1980 in Dakar geboren wurde, Studentin ist, die in einem Vorort von Paris lebt. Coly wird beschuldigt, ihre 15 Monate alte Tochter ermordet zu haben, indem sie sie eines Nachts in Berck am Strand zurückgelassen hat, als die Flut hereinbrach. Rama will aus ihrer Geschichte ein Buch mit dem Titel Médée naufragée machen, eine zeitgemäße Nacherzählung des Medea-Mythos. Sie hat ihre eigene Mutter nie kennengelernt und ist selbst im vierten Monat schwanger.
Fasziniert beobachtet sie den Prozess, in dem die Lebensgeschichte der Angeklagten enthüllt wird und der ihr ihre eigene Familienvergangenheit vor Augen führt und ihrer baldigen Mutterschaft einen Spiegel vorhält. Laurence erfuhr eine strenge Erziehung im Senegal. Nach ihrer Übersiedlung nach Europa begann sie sich allmählich von ihrer Familie und der Gesellschaft zu isolieren. Laurence erfuhr Traumata durch Rassismus und emotionale Manipulation, die nie aufgearbeitet wurden. Dies kulminierte in den heimtückischen Mord an ihrer Tochter.[1][2][3]
Medea, die zauberkundige Tochter des Königs Aietes von Kolchis, ist eine Frauengestalt der griechischen Mythologie und zählte als Enkelin des Sonnengottes zu den Unsterblichen. Jeweils nach der Geburt brachte Medea ihre Kinder in den Heratempel, um sie dort durch einen Zauber unsterblich zu machen, da sie wegen der Sterblichkeit ihres Vaters Iason ebenfalls sterblich waren. Das Vorhaben misslang jedoch, und die Kinder kamen dabei ums Leben. Medea hatte damit, wenn auch in bester Absicht, den Tod ihrer Kinder herbeigeführt.
Der im Film geschilderte Kindsmord nimmt Bezug auf die in Frankreich bekannte „Kabou-Affäre“ bzw. „Adélaïde-Affäre“. Am 19. November 2013 reiste die 36-jährige Fabienne Kabou mit ihrer 15-monatigen alten Tochter Adélaïde, „Ada“ genannt, mit dem Zug von Paris an den Badeort Berck bei Calais. Die ehemalige Philosophiestudentin senegalesischer Abstammung, die zuletzt arbeitslos war, bezog ein Zimmer in einem Hotel am Strand und erkundigte sich nach den Gezeiten. Der Ort ist bekannt für seine starke Flut und kräftigen Winde. Einen Tag später checkte Kabou allein aus dem Hotel aus und gab dem Hotelpersonal an, dass der Kindsvater Adélaïde zuvor abgeholt hätte. Einige Tage später fanden Krabbenfischer den Leichnam von Adélaïde, den sie als „Kleine Prinzessin von Berck“ betitelten. Über die Hinweise des Hotelbesitzers, der Kabous Namen versehentlich mit „C“ am Anfang geschrieben hatte und einem Fahndungsbild aus einer Bahnhofskamera in Paris, konnte die Mutter gefasst werden. Im Verlauf der Ermittlungen stellte sich heraus, dass Kabou ihre noch lebende Tochter samt Kinderwagen am Tag ihrer Ankunft in Berck gegen circa 21 Uhr auf den dortigen Sandstrand abgestellt hatte, bevor sie flüchtete und die Flut kam. Den Tag darauf kehrte sie nach Paris zu ihrem langjährigen Lebensgefährten zurück, einem 63-jährigen Künstler. Kabou gab an, ihr Kind über alles geliebt zu haben, aber den Alltag mit Adélaïde nicht habe bewältigen können. Das Kind sei unvereinbar mit ihrer Liebesbeziehung gewesen.[4]
Im Juni 2016 wurde Kabou von einem Schwurgericht in Saint-Omer (Pas-de-Calais) wegen Mordes zu einer Haftstrafe von 20 Jahren verurteilt. Vor Gericht gab sie an, für ihre Tat „keine andere Erklärung als Hexerei“ zu haben. „Ich wurde von etwas gedrängt, ich hatte keine Wahl“, so die Angeklagte. In der Vergangenheit hatte Kabou 40.000 Euro für Wunderheiler ausgegeben. Mehrere Gutachter bescheinigten ihr psychische Probleme, über deren Ausmaß aber Uneinigkeit herrschte. Gleichwohl sprachen alle Experten von einer Einschränkung des Urteilsvermögens Kabous zum Tatzeitpunkt. Das Gericht hielt dies in seinem Urteil fest und ordnete eine psychiatrische Behandlung der Verurteilten im Gefängnis an. Beobachter zeigten sich schockiert von der Distanziertheit und Gleichgültigkeit, die Kabou während der Gerichtsverhandlung zeigte.[5] Regisseurin Alice Diop verfolgte den Prozess und war eigenen Angaben zufolge bei der Urteilsverkündung im Gerichtssaal anwesend.[6]
Regie führte Alice Diop, die gemeinsam mit ihrer Editorin Amrita David und der französischen Schriftstellerin Marie NDiaye auch das Drehbuch schrieb. Es handelt sich bei Saint Omer nach Dokumentarfilmen wie La mort de Danton, La permanence und Wir um Diops Spielfilmdebüt. NDiaye hatte bereits das Drehbuch für den Film White Material von Claire Denis geschrieben.
Die multidisziplinäre Künstlerin Kayije Kagame spielt die Romanautorin Rama, Guslagie Malanda die von ihr im Gerichtsprozess beobachtete Laurence Coly.[7][8] Thomas de Pourquery ist in der Rolle von Ramas Ehemann Adrien zu sehen.[9]
Als Kamerafrau fungierte Claire Mathon, die zuletzt mit Mati Diop, Pablo Larraín und Céline Sciamma zusammengearbeitet hatte.[10] Als hauptverantwortliche Editorin war übereinstimmenden offiziellen Angaben zufolge Amrita David allein an dem Filmprojekt beteiligt.[6][11][12][13]
Die Premiere erfolgte am 7. September 2022 bei den Internationalen Filmfestspiele von Venedig, wo Saint Omer im Wettbewerb um den Goldenen Löwen konkurriert. Ebenfalls im September 2022 soll der Film beim Toronto International Film Festival gezeigt werden.[14] Im Oktober 2022 wird er beim New York Film Festival, beim London Film Festival, beim Chicago International Film Festival und beim Busan International Film Festival vorgestellt.[15][16][17][18] Anfang November wird er beim AFI Fest gezeigt.[19] Der Kinostart in Frankreich ist am 23. November 2022 im Verleih von Les films du losange geplant.[2]
Von den bei Rotten Tomatoes aufgeführten Kritiken sind alle positiv bei einer durchschnittlichen Bewertung mit 9 von 10 möglichen Punkten.[20]
Lovia Gyarkye von The Hollywood Reporter schreibt, Saint Omer mag Fiktion sein, aber Diop weiche mit dem Film nicht zu weit von ihren dokumentarischen Wurzeln ab, er bewahre selbst in seinen angespanntesten Momenten einen Sinn für Naturalismus. Diops Regiestil sei eher beobachtend, als würde sie die Wirkung ihres Drehbuchs auf ihre Darsteller beobachten und aufzeichnen.[9]
Sophie Monks Kaufmann von IndieWire schreibt, die Kamera liebe Kayije Kagame, deren Eleganz sogar eine Jeans wie Haute Couture wirken lasse. Ihre Gelassenheit verleihe ihr eine willkommene Anmut, während sich der Gerichtsprozess entfaltet und die erschütternden Details der Geschichte an die Oberfläche kommen. Malanga ihrerseits sei sehr still, und mit dem kastanienfarbenen Oberteil, in dem sie an der immer gleichen Stelle an einem Ort verharrt, entschuldige sich aber niemals. Obwohl ein fiktionales Werk, sei Saint Omer in seinen Belangen stark dokumentarisch, und die Fragen, die der Film aufwirft, forderten das Publikum heraus, so Monks Kaufmann.[21]
Fabien Lemercier vom Online-Filmmagazin Cineuropa erklärt Saint Omer lüfte den Schleier über der „Geschichte einer Geisterfrau, die niemand kennt“ und arbeite mit Feingefühl an der Distanziertheit und an den Vorurteilen gegenüber einem Verbrechen, das über jedes Verständnis hinausgeht. Seine Undurchsichtigkeit sei die Stärke dieses herrischen, aber kryptischen Films, der seinen beunruhigenden Protagonisten perfekt widerspiegele.[3]
Saint Omer wurde von Frankreich als Beitrag für die Oscarverleihung 2023 in der Kategorie Bester Internationaler Film eingereicht.[22] Der Film befindet sich zudem in einer Vorauswahl für den Europäischen Filmpreis 2022.[23] Im Folgenden eine Auswahl weiterer Auszeichnungen und Nominierungen.
Chicago International Film Festival 2022
Film Fest Gent 2022
Internationale Filmfestspiele von Venedig 2022
London Film Festival 2022