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Fritz Joachim Raddatz (* 3. September 1931 in Berlin; † 26. Februar 2015 in Pfäffikon ZH, Schweiz) war ein deutscher Feuilletonist, Essayist, Biograph und Romancier, der als einer der einflussreichsten deutschen Literaturkritiker seiner Zeit galt.

Fritz J. Raddatz (2003)
Fritz J. Raddatz (2003)

Leben


Fritz Joachim Raddatz’ Mutter Alice, eine „Pariserin aus reichem Haus“[1], starb nach Raddatz' Angaben bei seiner Geburt oder nach seinen Angaben an anderer Stelle im Januar 1933[2]. Der Vater war ein ihm später namentlich geläufiger „nicht unbekannter“ Mann, den er aus diesem Grund nicht nennen wollte.[1] Sein Stiefvater war während des Ersten Weltkrieges Angehöriger von Richthofens Staffel[3] und während der Weimarer Republik Direktionsmitglied des Filmunternehmens UFA. Raddatz schilderte ihn als aggressiv und brutal, machte ihn für körperliche Misshandlungen in seiner Kindheit und die Zuführung zu erzwungenem Sex mit seiner Stiefmutter Irmgard verantwortlich.

Als der Stiefvater 1946 starb, bekamen Fritz und seine Schwester[4] zunächst französische Pässe, doch übernahm dann der 31-jährige protestantische Theologe Hans-Joachim Mund seine Vormundschaft.[5] Dieser begann mit dem fünfzehnjährigen Raddatz – gemäß dessen Schilderung – eine Affäre.[6] Raddatz legte an der Askanischen Oberschule in Berlin-Tempelhof sein Abitur ab. Wie sein Vormund ging Raddatz 1950 aus politischer Überzeugung nach Ostberlin.[6] Er studierte dort Germanistik, Geschichte, Theaterwissenschaft, Kunstgeschichte und Amerikanistik und legte 1953 sein Staatsexamen an der Humboldt-Universität zu Berlin ab. 1958 folgte die Promotion.

Als Zwanzigjähriger schrieb Raddatz für die Berliner Zeitung.[7] Von 1953 bis 1958 war er Leiter der Auslandsabteilung und stellvertretender Cheflektor beim Verlag „Volk und Welt“ in Ost-Berlin. Nach lange währenden Konflikten mit Regierungs- und Parteibehörden der DDR siedelte er 1958 in die Bundesrepublik über. 1971 wurde er an der Universität Hannover bei Hans Mayer habilitiert.

1960 wurde er Cheflektor und stellvertretender Verlagsleiter[7] des Rowohlt Verlags unter Heinrich Maria Ledig-Rowohlt sowie Herausgeber der Taschenbuchreihe rororo-aktuell. 1969 musste er diese Funktion aufgrund der sogenannten „Ballonaffäre“ aufgeben, dem Abwurf von 50.000 im Auftrag von Rowohlt gedruckten Exemplaren der Erinnerungen von Jewgenija Ginsburg über dem Gebiet der DDR.[8][9] Ab 1976 war er Leiter des Feuilletons der Wochenzeitung Die Zeit. 1985 schied er nach der Verwendung falscher Goethe-Zitate in einem Leitartikel aus diesem Amt aus, blieb aber weiter als Kulturkorrespondent bei dieser Zeitung tätig.[10][11] Das falsche Zitat fiel auf, weil er es nicht aus Werken Goethes, sondern aus einer Glosse der Neuen Zürcher Zeitung entnommen hatte (die ein satirischer Beitrag war). In dem Text wurde der Frankfurter Bahnhof erwähnt, den Goethe gar nicht gekannt haben kann, da er erst nach dessen Tod eröffnet wurde.[12][13]

Mit Mary Gerold-Tucholsky gab Raddatz Kurt Tucholskys Gesammelte Werke in 10 Bänden (Reinbek 1975) heraus.

Auf Grundlage seiner seit 1982 geführten Tagebücher veröffentlichte er 2003 den Erinnerungsband Unruhestifter; die Tagebücher selbst erschienen in redigierter Form 2010 und 2014.[14][15] Seine Tagebücher sind nach Ansicht von Hellmuth Karasek ein Panoptikum der west- und ostdeutschen Verlags- und Autorenszene nach 1945.[16] Neben seiner journalistischen Arbeit legte er eine Vielzahl von Essays, Romanen und Biografien vor.

Er war offen bisexuell, nach eigenem Bekunden weit überwiegend mit männlichen Partnern, und lebte in Hamburg mehr als 30 Jahre lang mit seinem Lebenspartner Gerd Bruns zusammen, davon 13 Jahre in einer eingetragenen Partnerschaft.[17]

Im September 2014 gab Raddatz bekannt, sich aus dem aktiven Journalismus zurückziehen zu wollen. Grund dafür sei, dass er sich nicht mehr als zeitgemäß empfinde. Die aktuelle Lyrik und die zeitgenössischen Romane seien für ihn nicht mehr interessant und vor allem nicht mehr liebenswert.[18]

Raddatz’ Grabstätte in Keitum auf Sylt
Raddatz’ Grabstätte in Keitum auf Sylt

Zu seinem langjährigen Freund Arno Widmann sagte er: „Irgendwann muss Schluss sein“. Raddatz wollte das Ende seines Lebens selbst bestimmen. Er war seit langer Zeit ein Anhänger des begleiteten Suizids und hielt ihn für eine würdige Form, das Leben zu beenden. Wichtig war ihm: „Eben nicht zu warten, bis der Schlaganfall kommt, in seltsamer Finsternis zu versinken, in die kein Mensch mehr eindringen kann“. So wählte Raddatz den in der Schweiz legalen begleiteten Suizid. Er starb am 26. Februar 2015, einen Tag vor dem Erscheinen seines letzten Buches Jahre mit Ledig. Eine Erinnerung, im „Sterbehaus“ von Dignitas[19][20] am Ufer des Pfäffikersees. Sein Grab liegt auf dem Friedhof von Keitum auf Sylt, wo er die Grabstelle und den Grabstein bereits Jahre vor seinem Tod gekauft hatte.[21]


Funktionen und Mitgliedschaften


Fritz J. Raddatz war Vorsitzender der Kurt-Tucholsky-Stiftung, Mitglied im PEN-Zentrum Deutschland und der Hamburger Freien Akademie der Künste.


Auszeichnungen


François Mitterrand verlieh ihm den Orden Officier des Arts et des Lettres. 2010 erhielt Raddatz den Hildegard-von-Bingen-Preis für Publizistik.


Werke (Auswahl)


Raddatz beim Signieren eines Exemplars des Buchs Unruhestifter (2012)
Raddatz beim Signieren eines Exemplars des Buchs Unruhestifter (2012)

Hörfunk




Commons: Fritz J. Raddatz – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Einzelnachweise


  1. Sven Michaelsen: Es gab zu viele Verwundungen – Sex mit der Stiefmutter, Kämpfe mit Grass: Der Publizist Fritz Raddatz hat neue Tagebücher veröffentlicht – und teilt aus wie nie. sz-magazin.sueddeutsche.de, 4. April 2014, abgerufen am 3. Juli 2014.
  2. Der Freitag, Alles zu den Fritz-J.-Raddatz-Festwochen, abgerufen am 11. März 2022
  3. 3sat, 6. Dezember 2010: Interview-Video Fritz J. Raddatz (Memento vom 7. April 2014 im Internet Archive) geführt von Peter Voß, Reihe Peter Voß fragt…
  4. Raddatz nannte sie (Tagebuchnotiz in The Golden Park, Nizza, den 5. Mai 2005) die „Schnecke“ und erwähnt ihr Leben und ihren Tod wie folgt: “Ein schwarzer Blitz hat zerrissen, was als faule, sonnige, verdöste Tage ohne Termin im Genick und ohne andere Nöte geplant war … Meine Schwester, die Schnecke, die geliebte Verrückte und liederlich Liebende, ist tot. Gleich am Tag nach meiner Ankunft kam der Anruf (…): die Totenfeier in einem buddhistischen Tempel in Bangkok. Von Tempelhof zum Tempel in Thailand – was für ein Lebensbogen, wieviel Wirrnis, wieviel Jagd nach dem Glück, wieviel Ungeduld und wieviel verschlampte Unbürgerlichkeit prägte(n) dieses Leben. (…) Aber ich habe sie geliebt –, und ganz ins Grab geht sie erst, wenn ich in das meine muß; denn bis dahin wird sie in mir vorhanden sein.”, in: Fritz J. Raddatz: Tagebücher. Jahre 2002–2012.
  5. „Liebes Fritzchen“ – „Lieber Groß-Uwe“. Uwe Johnson – Fritz J. Raddatz, der Briefwechsel, hrsg. von Erdmut Wizisla. Frankfurt a. M. 2006. S. 193.
  6. «Mehr als in mein Leben geht in ein Leben nicht rein», bazonline.ch
  7. Arno Widmann: Fritz J. Raddatz’ Erinnerungen sind egoman und verrückt, aber gerade darum großartig. In: Berliner Zeitung, 29. September 2003.
  8. Dieter E. Zimmer: Die Affäre Rowohlt, d-e-zimmer.de, zitiert nach: DIE ZEIT/Feuilleton, Nr. 39, 26. September 1969, S. 16–17, Titel: Frißt die Revolution ihre Verleger?
  9. Rowohlt-Archiv, 1969: Ballon- und andere Affären (Memento vom 1. November 2014 im Internet Archive)
  10. Peter Mohr: Grenzen überschreiten In Titel-Kulturmagazin vom 26. Februar 2015, abgerufen am 25. Juli 2018.
  11. Literatur: Fritz J. Raddatz ist tot. In: Zeit Online. 26. Februar 2015, abgerufen am 7. März 2015.
  12. Raddatz auf Goethes Bahnhof. In: Der Spiegel. Nr. 42, 1985 (online 14. Oktober 1985).
  13. Alles zu den Fritz-J.-Raddatz-Festwochen, Der Freitag, Dezember 2013
  14. Wolfram Schütte: Der Fall Raddatz. www.glanzundelend.de
  15. Lothar Struck: »Gestreichelt worden bin ich in meinem Leben nicht«. www.glanzundelend.de
  16. WELT.de 15. September 2010: Hellmuth Karasek rechnet mit Fritz J. Raddatz ab.
  17. Sven Michaelsen: Es gab zu viele Verwundungen – Seite 2: Alles etwas manieriert, wenn Sie so wollen. Andere nehmen vielleicht Heroin. sz-magazin.sueddeutsche.de, 4. April 2014, abgerufen am 3. Juli 2014.
  18. Fritz J. Raddatz: Fritz J. Raddatz erklärt Abschied vom Journalismus. Die Welt, 19. September 2014, abgerufen am 21. September 2014.
  19. Theo Sommer: Fritz J. Raddatz: Ein Genie und Provokateur. In: Zeit Online. 26. Februar 2015, abgerufen am 6. März 2015.
  20. Rolf Hochhuth: Ich habe noch versucht ihn zu halten. Nachruf. In: Kultur › Literatur. 27. Februar 2015. Auf Welt.de, abgerufen am 8. November 2022.
  21. Fritz J. Raddatz: Tagebücher 1982–2001. Rowohlt, Reinbek 2010, S. 11, 376.
  22. Originalbeitrag
  23. Alexander Cammann: Wie geht man ab? Ein großer Klagegesang: Fritz J. Raddatz’ Tagebücher von 2002 bis 2012 sind scharfsinnig, komisch und berührend.. Die Zeit. 20. März 2014. Abgerufen am 11. März 2022.
Personendaten
NAME Raddatz, Fritz J.
ALTERNATIVNAMEN Raddatz, Fritz Joachim (vollständiger Name)
KURZBESCHREIBUNG deutscher Feuilletonist, Essayist, Biograph und Romancier
GEBURTSDATUM 3. September 1931
GEBURTSORT Berlin
STERBEDATUM 26. Februar 2015
STERBEORT Pfäffikon ZH, Schweiz

На других языках


- [de] Fritz J. Raddatz

[en] Fritz J. Raddatz

Fritz Joachim Raddatz (3 September 1931 – 26 February 2015) was a German feuilletonist, essayist, biographer, journalist and romancier.

[ru] Раддац, Фриц

Фриц Раддац (нем. Fritz Joachim Raddatz, 3 сентября 1931, Берлин — 26 февраля 2015) — немецкий писатель, историк литературы, журналист, эссеист.



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