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Francis George Steiner (* 23. April 1929 in Neuilly-sur-Seine bei Paris; † 3. Februar 2020 in Cambridge, Vereinigtes Königreich) war ein US-amerikanischer Literaturwissenschaftler, Schriftsteller, Philosoph und Kritiker.

George Steiner (2013)
George Steiner (2013)

Leben



Kindheit


George Steiner wurde als Sohn der österreichischen Juden (Friedrich) Frederick George Steiner und Elsie Steiner in Neuilly-sur-Seine bei Paris geboren. Sein Vater (* 1890 in Lidice) stammte aus einfachen Verhältnissen und war in Wien zu einem einflussreichen Bankier geworden. Seine Mutter stammte aus dem Elsass.[1] Ein Großonkel mütterlicherseits war Karl Emil Franzos.[2] Steiners Eltern wanderten 1924 angesichts des wachsenden Antisemitismus aus Wien nach Frankreich aus. George lernte Französisch, Englisch und Deutsch gleichermaßen zu sprechen und las, angeregt durch seinen Vater, Klassiker des Bildungskanons.[3] Zunächst besuchte er das Pariser Lycée Janson de Sailly im 16. Arrondissement. Im Mai 1940, nach dem Beginn des Westfeldzugs, floh seine Familie via Genua[1] nach New York. Keine vier Wochen später besetzte die Wehrmacht Paris. Bis auf ihn und eine weitere Person wurden alle jüdischen Schüler aus seiner Lycéeklasse in Konzentrationslagern ermordet.[4]

Steiner besuchte das French Lycée und machte 1947 das Baccalauréat; 1944 erhielt er die Staatsbürgerschaft der Vereinigten Staaten.[5]


Akademische Laufbahn


Steiner studierte in Chicago (B.A.), Harvard (M.A.) und wurde am Balliol College der Universität Oxford promoviert. Noch als Student begann er zu publizieren und arbeitete von 1952 bis 1956 als Redakteur bei der Zeitschrift The Economist in London.

Danach kehrte er zurück in die USA und besuchte von 1956 bis 1958 das Institute for Advanced Study der Princeton University, an dem er 1959/60 auch seine ersten Vorlesungen halten konnte. 1958/59 erhielt Steiner eine Fulbright-Professur an der Universität Innsbruck, und ab 1961 lehrte er als Founding Fellow am Churchill College in Cambridge. 1974 wechselte er als Professor für Englische Literatur und Vergleichende Literaturwissenschaft zur Universität Genf, wo er bis zu seiner Emeritierung 1994 tätig war. Daraufhin übernahm er 1994/95 den Lord-Weidenfeld-Lehrstuhl für Komparatistik am St Anne’s College der Universität Oxford. 2002/03 schloss er seine Lehrtätigkeit mit einer Professur an der Harvard University ab (als Norton Professor of Poetry).

Als Fachmann für vergleichende Literaturwissenschaft beschäftigte er sich in seinen Büchern und Aufsätzen mit kulturphilosophischen Fragen der Übersetzung und dem Wesen von Sprache und der Literatur. Er untersuchte vorzugsweise die Beziehung zwischen Literatur und Gesellschaft, insbesondere im Licht der neueren Geschichte. So verfasste er etwa in Language and Silence (1967) Essays über die dehumanisierenden Folgen des Zweiten Weltkriegs auf die Literatur. Seine Studie Nach Babel (1975) über Sprache und Übersetzung gilt als fundamentales Werk der Komparatistik.[6]

Er schrieb neben wissenschaftlichen Beiträgen regelmäßig Rezensionen und Artikel für Zeitschriften und Zeitungen wie den New Yorker, das Times Literary Supplement und den Guardian. Steiner sprach und schrieb in fünf Sprachen. Er war Mitglied der British Academy.


Familie


1955 heiratete er Zara Shakow, mit der er von seinen Freunden 1952 bekannt gemacht worden war. Ihr Sohn David war Dekan der School of Education am Hunter College in New York, Tochter Deborah lehrt als Professorin für Klassische Philologie an der Columbia University. Steiner starb im Februar 2020 im Alter von 90 Jahren in seinem Haus im britischen Cambridge. 10 Tage nach ihm starb seine Frau Zara im Alter von 91 Jahren.


Suhrkamp-Kultur


Steiner prägte in einer Besprechung von Theodor W. Adornos zwanzigbändiger Werkausgabe 1973 im Suhrkamp-Verlag den Begriff der „Suhrkamp-Kultur“.

Unavoidably, both in respect to subject and to rhetorical genre, the Ästhetische Theorie raises the question whether Adornos Werke like those, say, of Max Scheler or Nikolai Hartmann, will pass into a state of unread monumentality. There is no honesty in evading the issue. It is, paradoxically, inherent in the solemn and exhaustive format of this edition. Like Bloch and Walter Benjamin, Adorno has profited formidably from what one might call «the Suhrkamp culture» which now dominates so much of German high literacy and intellectual ranking. Almost singlehanded, by force of cultural-political vision and technical acumen, the publishing firm of Suhrkamp has created a modern philosophic canon. In so far as it has made available the most important, demanding philosophical voices of the age, in so far as it has filled German bookshelves with the presence of that German-Jewish intellectual and nervous genius which Nazism sought to obliterate, the Suhrkamp initiative has been a permanent gain. But the danger of indiscriminate sanctification is there. Twenty tomes of Adorno is a lot: more than twice as much, perhaps, as ten volumes of Benjamin. Ephemeral reviews, polemical articles, texts written under the pressure of immediate political contingency, opuscula, closely-related variants or reprises on the same theme (so flagrantly visible in successive massive installments of Ernst Bloch) are being enshrined with all the philological gravity proper to the classic. It is ironic that this monumentalization should apply to Adorno, who was among the first to note the necessarily ephemeral, fragmentary. self-correcting quality which both undermines and authenticates contemporary critical thought.[7]

Der Suhrkamp-Verlag verwendete den Begriff daraufhin für sein Marketing.


Werke


Chronologisch geordnet nach dem Erscheinen der englischen Originalausgabe:


Zitate


Wir sind uns jetzt bewußt, daß extreme Formen kollektiver Hysterie und Grausamkeit mit einer damit parallel verlaufenden Instandhaltung oder sogar Weiterentwicklung der Institutionen, der Bürokratie und der Berufsethik einer hochentwickelten Kultur einhergehen können. […] Wir wissen auch – und hier betreffen es Kenntnisse, die sorgfältig dokumentiert sind, aber bisher in keiner Weise Eingang in eine rationelle Psychologie gefunden haben –, daß in ein und demselben Individuum klare Merkmale einer literarischen und ästhetischen Empfindung mit einem barbarischen, politisch sadistischen Verhalten zusammen gehen können. Menschen wie Hans Frank, der die Endlösung in Osteuropa leitete, waren begeisterte Kenner und in einigen Fällen Interpreten von Bach und Mozart. Wir wissen, daß manche Helfer und Helfershelfer der Bürokratie der Henker und der Verbrennungsöfen Goethe-Kenner waren und gern Rilke lasen.

George Steiner, In Blaubarts Burg, 1971[9]

„(G. Steiner zu seinem Verhältnis zu Israel:) Israel ist ein reines Wunder, ein magisch erfüllter Traum aus der Hölle. Es ist jetzt der einzige sichere Zufluchtsort für den Juden, wenn es irgendwo wieder losgeht. Und es wird wieder losgehen! Vielleicht wird Israel eines Tages meine Kinder und Enkelkinder beherbergen. Welcher Jude hat das Recht, dem Zionismus gegenüber Zweifel, sogar Trauer zu hegen? Jedoch: Während mehr als zweitausend Jahren der Verfolgung, des Massenmords, des Ghettos und des Hohns war der Jude nicht imstande, einen anderen Menschen zu demütigen, zu foltern. Meines Erachtens gab es keine höhere Auszeichnung, keinen stolzeren Adel, als dem Volk anzugehören, welches nicht gefoltert hat! Beinahe seit meiner Kindheit war ich so stolz darauf, von solch einer Arroganz: Ich gehöre der höchsten Rasse an, weil wir nicht foltern. Wir sind die einzigen. Wir hatten nicht die Macht dazu. Halleluja!

George Steiner: Wir alle sind Gäste des Lebens und der Wahrheit. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 31. Mai 2003, S. 39.

„(Steiners Lieblingswitz, mit dem er über den Tag kommt:) Gott hat endgültig genug von uns und verkündet das Kommen einer neuen Sintflut binnen zehn Tagen. Keine Arche werde diesmal auf den Weg gebracht. Aus. Schluss. Feierabend. Aus Rom ruft der Papst die Katholiken auf, sich Gottes Willen zu fügen und das Ende im Gebet zu erwarten. Die Protestanten sagen: Lasset uns beten, zuvor aber unsere Bankkonten ordnen, die Bilanzen müssen stimmen. Der Rabbi hingegen ruft aus: Zehn Tage? Aber das reicht völlig, um das Atmen unter Wasser zu erlernen.

zitiert bei Volker Breidecker: Die Kunst, überall zu Hause zu sein. Rezension. In: Süddeutsche Zeitung, 7. April 2016, S. 15.

Auszeichnungen (Auszug)



Literatur




Wikiquote: George Steiner – Zitate (englisch)
Gespräche
Nachrufe

Einzelbelege


  1. munzinger.de
  2. Durs Grünbein: Vom Gewicht des Gedichts. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 23. April 2019. Siehe George Steiner: After Babel. Aspects of Language and Translation. 3. Auflage. Oxford University Press, Oxford, New York 1998, S. 120.
  3. Christopher Lehmann-Haupt, William Grimes: George Steiner, Prodigious Literary Critic, Dies at 90. In: The New York Times, 3. Februar 2020.
  4. George Steiner, Die Schule des Lesens. In: Sternstunde Philosophie, 4. Dezember 2011.
  5. Christopher Lehmann-Haupt, William Grimes: George Steiner, Prodigious Literary Critic, Dies at 90. In: The New York Times, 3. Februar 2020.
  6. Willi Winkler: Nachruf - George Steiner, der letzte Kaffeehausgast. Abgerufen am 1. Mai 2020.
  7. George Steiner, Adorno: Love and Cognition, in: Times Literary Supplement, 9. März 1973, S. 253–255; S. 255.
  8. Rezension von Wolfram Schütte: „Der Meister und seine Schüler“. In: Titel-Kulturmagazin, 7. April 2005.
  9. Gertie F. Bögels: Psychoanalyse in der Sprache Alice Millers. Königshausen und Neumann, Würzburg 1997, ISBN 3-8260-1321-2, (Universität Amsterdam, Dissertation, 1992), S. 80.
  10. Auszeichnung: Schriftsteller George Steiner erhält Ludwig-Börne-Preis. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 25. Mai 2003 (dpa-Meldung).
Personendaten
NAME Steiner, George
ALTERNATIVNAMEN Steiner, Francis George (vollständiger Name)
KURZBESCHREIBUNG US-amerikanischer Literaturwissenschaftler, Schriftsteller, Philosoph und Kulturkritiker
GEBURTSDATUM 23. April 1929
GEBURTSORT Neuilly-sur-Seine bei Paris
STERBEDATUM 3. Februar 2020
STERBEORT Cambridge

На других языках


- [de] George Steiner

[en] George Steiner

Francis George Steiner,[2] FBA (April 23, 1929 – February 3, 2020)[3][4] was a Franco-American literary critic, essayist, philosopher, novelist, and educator.[5] He wrote extensively about the relationship between language, literature and society, and the impact of the Holocaust.[6] An article in The Guardian described Steiner as a "polyglot and polymath".[7]

[ru] Стайнер, Джордж

Джордж Стайнер (англ. Francis George Steiner; 23 апреля 1929, Париж — 3 февраля 2020, Кембридж, Англия[6]) — французский и американский литературный критик, прозаик, литературовед, теоретик культуры. Профессор Женевского университета (эмерит).



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