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Günther Anders (bürgerlich Günther Siegmund Stern; geboren am 12. Juli 1902 in Breslau; gestorben am 17. Dezember 1992 in Wien) war ein deutsch-österreichischer Philosoph, Dichter und Schriftsteller.

Günther Anders mit Hannah Arendt (ca. 1929)
Günther Anders mit Hannah Arendt (ca. 1929)

Anders beschäftigte sich mit den ethischen und technischen Herausforderungen seiner Zeit; sein Hauptthema war die Zerstörung der Humanität. Dabei war er Mitbegründer und führende Persönlichkeit der Anti-Atomkraft-Bewegung, dezidierter Technikkritiker und Medienphilosoph und ist auch als Verfasser von Erzählungen und Gedichten hervorgetreten. Ungeachtet seiner Distanzierung von der wissenschaftlichen Hochschulphilosophie wird Anders an Universitäten als Forschungsgegenstand wahrgenommen und in zahlreichen Diplomarbeiten und Dissertationen behandelt.

Von 1929 bis 1937 war er mit der politischen Philosophin Hannah Arendt (1906–1975) verheiratet.


Leben



Jugend und Studium


Günther Sterns Familie vor 1914
Günther Sterns Familie vor 1914

Günther Sterns Eltern waren die jüdisch-deutschen Psychologen William Stern und Clara Stern. In ihrem Standardwerk Psychologie der frühen Kindheit finden sich viele Beobachtungen über Günther und seine Schwestern Hilde Marchwitza und Eva Michaelis-Stern. 1915 zog die Familie von Breslau nach Hamburg. Als 15-Jähriger erlebte Günther Stern die erste prägende Zäsur seines Lebens, als er während einer Einsatzfahrt mit Gleichaltrigen nach Frankreich auf dem Weg verstümmelte Soldaten des Ersten Weltkrieges sah:

„Unterwegs, auf einem Bahnhof, wohl in Lüttich, sah ich eine Reihe von Männern, die sonderbarerweise an den Hüften anfingen. Das waren Soldaten, die man auf ihre Stümpfe gestellt und an die Wand gelehnt hatte. So warteten sie auf den Zug in die Heimat.“[1]

Dieses Erlebnis und die ersten Erfahrungen mit Antisemitismus (Anders wurde von nationalistischen Mitschülern gemobbt) führten zu Günther Sterns Wandlung zum Pazifisten, Moralisten und Befürworter des Völkerbundes. Schon 1917 gründete er mit zwei Jugendfreunden Europa Unita, den Bund für ein vereinigtes Europa ohne Grenzen:

„Bei Kerzenlicht übermalten wir auf einer Karte von Europa mit weißer Farbe die Grenzen und schnitten uns E. U. in die Handflächen. Wir bluteten wie die Schweine und rannten zur Krankenschwester, einer Elsässerin. Die verstand sofort und wurde das dritte Mitglied. Durch dieses Erlebnis wurde ich zum Moralisten gemacht.“[1]

Stern studierte Philosophie bei Ernst Cassirer, Martin Heidegger und Edmund Husserl. Er promovierte 1923 bei Husserl an der Universität Freiburg über Phänomenologie. Nach dem Studium lebte Anders einige Jahre von philosophisch-essayistischen Vorträgen, journalistischer und belletristischer Arbeit für Fachzeitschriften, Radiosender und Zeitungen von Paris bis Berlin.


Ehe mit Hannah Arendt


Günther Stern lernte Hannah Arendt 1925 als Philosophie-Studentin in Marburg kennen, und beide zogen in Berlin im Jahr 1929 schon vor ihrer Heirat zusammen. 1929 lebten sie für kurze Zeit in Nowawes.[2] Ihre Ehe währte bis 1937, und Arendt hieß in dieser Zeit Stern. Nach einem kurzen Aufenthalt in Heidelberg lebte das Ehepaar ein Jahr in Frankfurt am Main. Stern arbeitete in dieser Zeit vor allem an einer systematischen philosophischen Anthropologie. Es gelang ihm zunächst bei Max Wertheimer, Paul Tillich und Karl Mannheim Interesse an seiner Habilitation zur Philosophie der Musik zu wecken. Es gibt Gerüchte, dass Theodor W. Adorno wegen einer vermeintlichen Heidegger-Nähe Sterns und aus qualitativen Gründen heftigen Einspruch gegen dessen Arbeit erhoben habe und die Habilitation bei Tillich in Frankfurt deshalb gescheitert sei.[3] Jedenfalls zog das Ehepaar wieder nach Berlin. 1979, im Gespräch mit Mathias Greffrath, berichtete Anders, dass er 1930 von den Wissenschaftlern vertröstet worden sei: „Jetzt kommen erst einmal die Nazis dran für ein Jahr oder so. Wenn die dann abgewirtschaftet haben, werden wir Sie habilitieren.“[4]

Beim Berliner Börsen-Courier schrieb Stern derart viele Beiträge, dass der Chef des Feuilletons, Herbert Ihering, um nicht die Hälfte aller Artikel unter einem einzigen Namen zu veröffentlichen, dem Verfasser vorschlug, ein Pseudonym zu benutzen. Günther Stern wählte den Namen Günther Anders. Diesen Namen nutzte er später für seine Veröffentlichungen ausschließlich.


Exil in Paris


Günther Anders nahm die Ankündigungen Hitlers und Anfänge der Judenverfolgung durch die Nationalsozialisten sehr ernst und emigrierte kurz nach dem Reichstagsbrand im März 1933 für drei Jahre nach Paris. Noch im selben Jahr wurde ihm als Jude die Reichsbürgerschaft aberkannt. Diese Ausbürgerung hätte seiner Meinung nach die spätere Bundesrepublik Deutschland oder die DDR von sich aus revozieren müssen, was aber nicht geschah.[5] Die Machtergreifung Hitlers und die Meldung über die Einrichtung von Konzentrationslagern nennt Anders die zweite große Zäsur seines Lebens, die ihn zum ausgeprägt politischen Intellektuellen und Schriftsteller machte.

Hannah Arendt, die ihm kurze Zeit später ins Exil nach Paris folgte, brachte ihm das Typoskript seines Romans Die molussische Katakombe nach Paris mit. „Inhalt des Buches war die Mechanik des Nationalsozialismus“; seinen Rahmen bildet die Situation zweier Häftlinge in finsterem Verlies, deren älterer dem jüngeren die Überlieferung des Widerstandes der Paria gegen die totalitäre Herrschaft erzählt. Der Versuch, das Buch im einzigen dafür in Frage kommenden deutschsprachigen Verlag in Paris zu veröffentlichen, scheiterte, nach Anders’ Darstellung, an dem gleichfalls aus Berlin geflüchteten Lektor Manès Sperber, damals ein Partei-Kommunist, der es, so behauptete später Anders, mit der Frage „Und das halten Sie für linientreu?“ ablehnte.[6] Auch die im Frühjahr 1933 in Paris entstandene Novelle Learsi über die Außenseitersituation der deutschen Juden wurde nicht verlegt.[7] Allein der Vortragstext Pathologie de la liberté (Pathologie der Freiheit) erschien in zwei Teilen 1935/36 in der Fachzeitschrift Recherches Philosophiques. Jean-Paul Sartre sagte dazu, der Text habe Einfluss auf die Entstehung des Existentialismus gehabt.[8]

Ein Onkel zweiten Grades von Günther Anders, Walter Benjamin, wurde von Hannah Arendt unterstützt, als er ebenfalls 1933 nach Paris ins Exil ging und dort fast mittellos war; zwischen ihnen ist ein reger Briefwechsel überliefert.

Während Arendt durch ihre Arbeit für zionistische Flüchtlingsorganisationen Geld verdiente, konnte Anders im Pariser Exil kaum etwas zum gemeinsamen Lebensunterhalt beitragen. Unter anderem wegen der wirtschaftlich und menschlich schweren Bedingungen des gemeinsamen Lebens im Quartier Latin zerbrach die Ehe schließlich. Schon vor der Scheidung 1937 hatte Arendt ihren späteren zweiten Ehemann Heinrich Blücher kennen gelernt.


Emigration in die USA


Aus Sorge vor dem sich anbahnenden neuen Weltkrieg reiste Günther Anders 1936 weiter nach New York. Anders’ Vater, der Professor in North Carolina geworden war, unterstützte ihn in der ersten Zeit. Anders bekam Schwierigkeiten mit der US-Bürokratie, die ihn bereits vor der McCarthy-Ära als Linken verdächtigte. Die Einbürgerungspapiere erhielt er erst nach vielen Jahren.

Vielerlei Gelegenheitsarbeiten prägten die folgenden vierzehn Jahre im amerikanischen Exil. Er schrieb allerdings auch Artikel für die deutschsprachige jüdische Zeitschrift Aufbau und veröffentlichte Gedichte und Kurzgeschichten in der Austro-American Tribune. Günther Anders war Hauslehrer bei Irving Berlin, versuchte sich mehrfach erfolglos als Drehbuchautor in Hollywood, war in einem Museum angestellt, arbeitete zeitweise im Kostüm-Fundus eines Filmateliers und in Fabriken in Los Angeles. Über seine Schilderungen in den Tagebüchern hinaus hat er die Erfahrungen dieser Zeit in sein Hauptwerk Die Antiquiertheit des Menschen einfließen lassen.

Um eine Stelle beim damaligen Office for War Information (OWI) anzutreten, kehrte er aus Kalifornien nach New York zurück. Diese Regierungsbehörde stellte Informationen in vielen Sprachen zusammen, die in dem von den Nationalsozialisten besetzten Europa über Rundfunk verbreitet wurden. Nach mehreren Monaten stellte Anders seine Tätigkeit mit der Begründung ein, er sei nicht vor dem Faschismus geflohen, um nun amerikanische faschistische Broschüren für Deutschland herzustellen.[9]

Schließlich bekam Anders doch noch eine akademische Anstellung als Dozent (Lecturer). An der New Yorker New School for Social Research hielt er Vorlesungen zur Philosophie der Kunst. Seine Vortrags- und Seminarreihe umfasste Interpretationen von Rembrandts Gemälde Segen Jakobs ebenso wie Analysen von Liedern Franz Schuberts. Die Studenten mit ihrer ständigen Belastung durch Prüfungen waren durch die Breite von Anders’ Vorlesungen überfordert. Günther Anders sah in den Problemen auch eine Störung der Spontaneität der Studenten durch eine in den 1940er Jahren in manchen akademischen Kreisen übliche psychoanalytisch oder besser: vulgärpsychoanalytisch geprägte Ausdrucksweise.[10]

Im amerikanischen Exil setzte sich Anders intensiv mit der Philosophie Heideggers auseinander. Insbesondere bemühte er sich um eine kritische, historische Kontextualisierung derselben und veröffentlichte dazu 1946/47 in den Temps Modernes, sowie 1946 bzw. 1948 die Aufsätze Nihilismus und Existenz und On the Pseudo-Concreteness of Heidegger’s Philosophy.[11]


Nachkriegszeit



Hiroshima und Nagasaki

Der Abwurf der Atombombe über Hiroshima am 6. August 1945 markierte den dritten Wendepunkt in Anders’ Leben. Er habe als Schriftsteller jahrelang nicht darauf reagieren können, weil mein Vorstellen, Denken, mein Mund und meine Haut vor der Ungeheuerlichkeit der Ereignisse streikte, während er intellektuell verstanden habe, dass es nun möglich sei, das gesamte Leben auf der Erde auszulöschen.[12] Erst nachdem er 1950 dauerhaft nach Europa zurückgekehrt war, gelang ihm eine Darstellung des Ereignisses im Kapitel Über die Ursachen unserer Apokalypseblindheit im ersten Band von Die Antiquiertheit des Menschen.

Anders war zusammen mit Robert Jungk einer der maßgeblichen Initiatoren der internationalen Bewegung gegen Kernwaffen und fuhr 1958 zum Jahrestag der Abwürfe nach Hiroshima und Nagasaki. Seine Erlebnisse und Gedanken dort schilderte er in seinem 1959 veröffentlichten Essay Der Mann auf der Brücke. Der Schriftsteller begann 1959, durch einen Artikel in Newsweek angeregt, einen Briefwechsel mit dem ehemaligen Luftwaffenpiloten Claude Eatherly, der die Wetterbedingungen über Hiroshima erkundet hatte und sich so als Mitverantwortlicher schuldig und von den Tausenden von Toten verfolgt fühlte und zwei Suizidversuche unternommen hatte. Anders nahm die Schuldgefühle Eatherlys ernst und reagierte ungehalten auf ein kritisches Buch des Journalisten William Bradford Huie.[13]


Weitere Ehen

Von 1945 bis 1955 war Anders mit der österreichischen Schriftstellerin Elisabeth Freundlich verheiratet, die er als Redakteurin des Feuilletons der Austro-American Tribune in New York kennengelernt hatte. Mit ihr kehrte er 1950 in ihre Heimatstadt Wien zurück. Sie wohnten zuerst bei den Eltern der Brüder Christian und Engelbert Broda. Durch Vermittlung Christians erhielten sie rasch die österreichische Staatsbürgerschaft (im Falle von Elisabeth Freundlich: zurück).

In dritter Ehe heiratete er 1957 die amerikanisch-jüdische Konzertpianistin Charlotte Zelka (eigentlich: Zelkowitz), die 1972 die Lebensgemeinschaft damit beendete, dass sie von einer Besuchsreise zu ihrer Familie nicht mehr aus den USA zu ihm zurückkehrte und ihm das auch mitteilte. Die Ehe wurde nicht geschieden. Der Kontakt zu Anders beschränkte sich nach der Trennung auf Briefe, Telefonate und gelegentliche Besuche, auch bei Elisabeth Freundlich, zu deren Gunsten sie eine notarielle Verzichtserklärung auf die künftige Hinterlassenschaft von Günther Anders hinterlegte.

In den späten 1980er Jahren wohnte der Schriftsteller, behindert durch eine schmerzhafte Polyarthrose, wieder bei Freundlich und führte mit der nahezu Erblindeten einen gemeinsamen Haushalt.


Freier Schriftsteller


1950 bis 1968

Günther Anders lebte ab 1950 dauerhaft in Wien, da ihm weder die Bundesrepublik Deutschland Konrad Adenauers noch Walter Ulbrichts DDR zusagten. Die ihm von Ernst Bloch angetragene Professur für Philosophie an der Universität Halle schlug er aus, da er schon seit Freiburger Tagen unter Allergie gegen stereotype philosophische Schulausdrücke litt.[14] Er zog es vor, als freiberuflicher Schriftsteller zu arbeiten, für den Rundfunk zu schreiben und Theaterstücke zu übersetzen.

Sein Buch Kafka: Pro und Contra. Die Prozeß-Unterlagen, das 1951 bei C. H. Beck erschien,[15] öffnete Anders die Tür u. a. zur Münchener Zeitschrift Merkur, deren Herausgeber Hans Paeschke mehrere Kapitel des ersten Bandes seines Hauptwerks Die Antiquiertheit des Menschen vorabdruckte. Einen Ruf auf einen Lehrstuhl an der Freien Universität Berlin schlug Günther Anders 1959 aus. 1961 bzw. 1962 veröffentlichte er Bücher über George Grosz und Bertolt Brecht, die er beide in seiner Berliner Zeit und im Exil persönlich kennengelernt hatte.

In dem 1964 erschienenen Wir Eichmannsöhne setzte sich Anders mit dem Holocaust auseinander. 1967 war er an Bertrand Russells Tribunal gegen Kriegsverbrechen (Russell-Tribunal) als Juror beteiligt. Sein essayistisches Werk Visit beautiful Vietnam[16] kritisierte den Vietnamkrieg, wie später die 68er-Bewegung auch.


1970 bis 1992

Das Grab von Günther Anders, Hernalser Friedhof in Wien.
Das Grab von Günther Anders, Hernalser Friedhof in Wien.

Technikkritik übte Anders in einigen Werken seiner beiden letzten Lebensjahrzehnte: Der Blick vom Mond über die erste Mondlandung, Endzeit und Zeitenende über die Atombombe und schließlich der zweite Band seines Hauptwerks Die Antiquiertheit des Menschen sind Beispiele dafür. Das erste Buch enthält neben einer Einleitung über die drei industriellen Revolutionen insgesamt 25 Essays zur zeitgenössischen Technik und Wissenschaft und zu Definitionen und Aspekten von Arbeit und Humanität. Die Essays verbindet die Frage, inwieweit der Begriff Antiquiertheit auf bislang gültige Begriffe und Vorstellungen angewendet werden kann.

Mit seinen jüdischen Wurzeln und der Geschichte des Judentums beschäftigte sich Anders in seinem Beitrag zu dem Sammelband Mein Judentum[17] und in Besuch im Hades. Auschwitz und Breslau 1966 mit Rückblendung 1944–1949 und Nach „Holocaust“ 1979.[18] In den Ketzereien schilderte Anders Begegnungen und Auseinandersetzungen mit Vertretern von Religionen und Weltanschauungen. 1982 verließ er die Israelitische Kultusgemeinde Wien aus Protest gegen deren völlige Gutheißung des israelischen Libanon-Feldzuges.

Ab 1983 „hatte Anders in der Zeitschrift FORVM [...] unter ihrem damaligen (und heutigen) Herausgeber Gerhard Oberschlick [...] eine carte blanche. Was immer er wollte, konnte er dort ohne redaktionelle Eingriffe publizieren und beinahe jedes neue Heft brachte damals Erstveröffentlichungen von Anders-Texten.“[19]

1985 lehnte Anders den Andreas-Gryphius-Preis aus politischen Gründen ab, ebenso wie 1992 die Ehrendoktorwürde der Universität Wien. Seine Haltung zur Gewaltfrage – Anders fragte, ob Attentate auf Betreiber von Atomkraftwerken legitim seien – löste intensive Diskussionen aus. Der in den 1930er Jahren aus einzelnen Geschichten kompilierte Roman Die molussische Katakombe kam erst in seinem Todesjahr 1992 in die Buchläden. In dem Roman setzte sich der Autor mit den psychologischen Mechanismen auseinander, die den Nationalsozialismus ermöglicht hatten.

Anders starb am 17. Dezember 1992 in Wien und wurde in einem ehrenhalber gewidmeten Grab auf dem Hernalser Friedhof (Gruppe U2, Nummer 31)[20] in Wien beigesetzt. Sein Nachlassverwalter ist Gerhard Oberschlick.


Philosophie



Methodische Ansätze


Anders nimmt an, dass einzelne Phänomene Rückschlüsse auf die gesamtgesellschaftliche Situation zulassen, so z. B. das Fernsehen oder die Atombombe. Im Unterschied zu Edmund Husserl führt er eine Zeitdimension der Phänomene an, die zeigen soll, dass sich ihr Wesen im Laufe der Zeit verändere.

Er geht davon aus, dass dem Menschen eine strukturale historische Wandelbarkeit und eine ontologische Differenz zur Welt eigen sei. Die Identität des Menschen sei also nicht ein für alle Mal festgelegt (negative Anthropologie), was die Voraussetzung für positive Freiheit und für die Schaffung einer unwandelbaren eigenen Welt bzw. Umwelt, Wissenschaft, Kunst etc. sei.


Technikphilosophie


Seine Kritik an der Zivilisation in der Mitte des 20. Jahrhunderts setzt am Gefälle zwischen der Unvollkommenheit des Menschen und der immer größer werdenden Perfektion der Maschinen an. Dieses Phänomen nennt Anders prometheisches Gefälle. Hiermit verknüpft er die prometheische Scham, d. h. die von dem Wunsch, selbst wie eine Maschine zu sein, erzeugte Scham des Menschen angesichts der eigenen Unterlegenheit gegenüber seinen technischen Schöpfungen.

Die Diskrepanz zwischen der Leistungsfähigkeit des Menschen und der seiner Geräte werde größer, seit das Werkzeug als Verlängerung und Verbesserung menschlicher Organe durch die Maschine mit ihrer Eigendynamik ersetzt werde; dies sei der Beginn der Antiquiertheit des Menschen gewesen. Das Mensch-Sein – im Grunde das Leben überhaupt – erscheine nun als antiquierte Daseinsform; der Mensch erzeuge mittels Arbeit Produkte, mit denen er sich selbst überflüssig mache. Das benannte Gefälle zwischen dem, was der Mensch sich vorstellen, und dem, was er herstellen kann, legt eine weitere Bedeutung des Ausdrucks Antiquiertheit des Menschen nahe: Der Mensch ist Anders zufolge in seinen Möglichkeiten des Denkens, des Vorstellens antiquiert, d. h. rückständig gegenüber dem, was er herzustellen imstande ist.

Techniken sieht Anders nicht als wertneutrale Mittel zum Zweck: Durch die Vorgabe der Geräte sei ihre Anwendung bereits festgelegt. Spezifische ökonomische, soziale und politische Verhältnisse produzierten Maschinen, die ihrerseits spezifische ökonomische, soziale und politische Veränderungen nach sich zögen; Technik werde so vom Objekt zum Subjekt der Geschichte. Der Mensch aber könne die strukturelle Macht der Geräte nicht mehr erkennen, Sachzwänge emotional und kognitiv nicht mehr bewältigen und empfinde sich als mangelhaft. Die strukturelle Überlegenheit der Geräte habe sowohl positive Folgen, z. B. Erleichterung der Arbeit, als auch negative, z. B. das Verschwinden der Zielgerichtetheit von Arbeit. Der Mensch sei nunmehr ein für die Wartung zuständiger Objekthirte der Geräte geworden.


Fernsehen

Seine Kulturkritik zeigt sich auch an der Haltung zum Fernsehen. Anders postuliert, dass das Fernsehen über Sachverhalte immer nur einen Teil aussage, nie alles. Dem Menschen als Empfänger der Fernsehinformation wird Objektivität vorgegaukelt, er wird der Urteilsarbeit enthoben, ihm wird die Idee suggeriert, er könne über Abwesendes verfügen, was er als Machtzuwachs empfindet. Die Differenz zwischen Ereignis und Abbild wird laut Anders ausgelöscht, daraus folgt eine strukturelle Täuschung über die Abhängigkeit des Konsumenten von bereits gefällten Urteilen (ontologische Zweideutigkeit).

Es ist demnach gleichgültig, was gezeigt wird, relevant ist lediglich, dass es überhaupt gezeigt wird: Das Fernsehbild gibt vor, das Abbild der Realität zu sein, und wird so zum Vorbild für gerade diese Realität. Das führt zu dem Bumerang-Effekt. Der Mensch richtet sich nach dem Abbild der Wirklichkeit, und die Realität wird auf diesem Wege zu diesem verzerrten Abbild. Auf einmal stimmt, was im Fernsehen zu sehen ist: Die Lüge hat sich wahrgelogen.

Das Fernsehen produziere überdies einen bestimmten Typ des Menschen: den vereinzelten Masseneremiten. Es stelle einen negativen Familientisch dar: Es gibt nunmehr keinen gemeinsamen Mittelpunkt mehr, sondern nur noch einen individuellen Fluchtpunkt.


Atombombe

Der Gelehrte behandelt drei Fragekomplexe:

Nach Anders kann die Bombe in keine Zweck-Mittel-Kategorien eingeordnet werden: Als Mittel ist sie nur einsetzbar, wenn sie nicht eingesetzt wird, also zur Abschreckung; nicht eingesetzt wird sie, wenn jederzeit mit ihrer Einsetzbarkeit gedroht werden kann bzw. gerechnet werden muss, d. h., ihr Da-Sein ist ihr Einsatz. Die Bombe ist außerdem allmächtig: Sie erpresst alle oder keinen. Im Grunde stellt dies eine „Selbsterpressung“ der Menschheit dar. Der menschliche Traum von der Allmacht wird negativ erfüllt: Wir besitzen die Macht, der Welt ein Ende zu bereiten, und sind die Herren der Apokalypse geworden. Durch die Möglichkeit, die Menschheit auszulöschen, ist die derzeitige Epoche die letzte, denn der Einsatz der Bombe bedeutet die Vernichtung von Vergangenheit und Zukunft.

Es besteht eine Differenz zwischen der Menschheit als potentiellem Opfer und der Pluralität von Mächten, die als Täter in Frage kommen. Der Prozess der massenhaften Vernichtung des Menschen gleicht sich immer mehr der arbeitsteiligen industriellen Produktion an: Keiner tut etwas Böses, jeder nur seine überschaubare Arbeit. Dies wird deutlich in seinem Briefwechsel mit dem Hiroshima-Piloten Claude Eatherly. Das Entsetzliche wird dazu noch durch wissenschaftlichen Jargon, Fachbegriffe, Abkürzungen, falsche Vergleiche und Witze verschleiert und ernüchtert. Der Mensch ist unfähig, diese Situation und ihre immanente Gefahr angemessen wahrzunehmen und ihr kognitiv und emotional angemessen zu begegnen.


Moral

Die technisch veränderte Welt hat, so Anders, die bisherigen Moralformen liquidiert. Der Anspruch einer neuen Moralität und Humanität bewirkt den Fortbestand der Menschheit. Weder Moral noch Existenz der Gattung Mensch lassen sich Anders zufolge logisch begründen; Humanität hat praktisch zu sein.

Da das Produkt und seine Herstellung auseinandergerissen werden, wirft der moralische Status eines Produktes, beispielsweise Giftgas oder die Wasserstoffbombe, scheinbar keinen Schatten auf die Moral dessen, der arbeitend an dieser Produktion teilnimmt. Der Beteiligte wird somit moralisch entlastet.

Die Aufgabe unserer Epoche ist es, den Menschen der Maschine gegenüber Souveränität zu verleihen und drohende atomare und technisch induzierte ökologische Katastrophen abzuwenden. Er fordert jedoch keine blinde Technikfeindlichkeit, sondern vernünftige Reflexion und daraus folgende, notfalls auch gewalttätige Aktionen.

Der Mensch muss „moralische Phantasie“ ausbilden, also das Gefühl für die Wahrnehmung des „Undenkbaren“ schulen, um Folgen abschätzen zu können und einen universellen hippokratischen Eid ablegen zu können:

„keine Arbeiten anzunehmen und durchzuführen, ohne diese zuvor darauf geprüft zu haben, ob sie direkte oder indirekte Vernichtungsarbeiten (sind); die Arbeiten, an denen wir gerade teilnehmen, aufzugeben, wenn diese sich als solche direkten oder indirekten Vernichtungsarbeiten erweisen sollten.“[21]


Ehrungen



Werke



Prosa



Tagebücher und Erinnerungen



Briefwechsel und Gespräche



Philosophische und politische Schriften



Artikel



Übersetzungen



Sammelbände



Sekundärliteratur


Biografie

Interviews und Gespräche

Einführungen

Zu Leben, Werk und Einzelaspekten

Medienpädagogik, Medienphilosophie


Siehe auch



Einzelnachweise


  1. Mathias Greffrath: Lob der Sturheit. In: Die Zeit
  2. MAZ vom 14. Oktober 2021 https://www.maz-online.de/Lokales/Potsdam/Gedenktafel-fuer-Hannah-Arendt-in-Potsdam-Babelsberg-enthuellt
  3. Dagegen betont Christian Dries: (Zwar) „scheiterten seine Habilitationspläne – jedoch nicht, wie häufig kolportiert, an einer Intrige des ein Jahr jüngeren Adorno, der wie Stern [= Anders] auf musikphilosophischem Terrain arbeitete.“ (Ch. Dries: Vita Günther Anders (1902–1992), Zugriff am 11. November 2022.)
  4. „Wenn ich verzweifelt bin, was geht’s mich an?“ in: Die Zerstörung einer Zukunft – Gespräche mit emigrierten Sozialwissenschaftlern. Rowohlt 1979; wieder in: Elke Schubert (Hrsg.): Günther Anders antwortet. Interviews & Erklärungen. Edition Tiamat, Berlin 1987, S. 29. ISBN 3-923118-11-2.
  5. Siehe: „Ich bin im Jahre 1933, weil ich in Paris offen vor der Gefahr Hitler gewarnt hatte, meiner deutschen Staatsangehörigkeit entkleidet worden. Da in den 45 Jahren seit dem Zusammenbruch des Dritten Reiches weder die Bundesrepublik noch die DDR auf den Gedanken gekommen ist, diese Ausbürgerung zu revozieren, sehe ich keinen Anlaß, mich zu irgendeiner Deutschland betreffenden Frage öffentlich zu äußern.“ – Günther Anders, zitiert nach: Volker Hage: In Wien wird Günther Anders neunzig. Der Andersdenkende. In: Die Zeit. 10. Juli 1992.
  6. G. Anders, interviewt von M. Greffrath. In: Elke Schubert (Hrsg.): Günther Anders antwortet. Interviews & Erklärungen. Mit einer Einleitung von Hans-Martin Lohmann. Tiamat, Berlin, 1987, S. 31. ISBN 3-923118-11-2.
  7. In: Günther Anders: Erzählungen. Fröhliche Philosophie. (ursprünglich: Kosmologische Humoreske und andere Erzählungen.) Suhrkamp Taschenbuch st 432, Frankfurt am Main 1978, S. 96–189. ISBN 3-518-36932-6.
  8. Traugott König im Nachwort zur Neuübersetzung von Jean-Paul Sartre: Das Sein und das Nichts.Rowohlt Taschenbuch Verlag rororo 13316, Reinbek bei Hamburg 1993, ISBN 3-499-13316-4, S. 1079 FN 7
  9. G. Anders, interviewt von Mathias Greffrath (1979). In: Elke Schubert (Hrsg.): Günther Anders antwortet. Interviews und Erklärungen. Tiamat, Berlin, 1987, S. 38.
  10. G. Anders, interviewt von Mathias Greffrath (1979). In: Elke Schubert (Hrsg.): Günther Anders antwortet. Interviews und Erklärungen. Tiamat, Berlin, 1987, S. 39 f.
  11. Ruinen heute | Mimeo. Abgerufen am 23. Mai 2021.
  12. G. Anders, interviewt von Mathias Greffrath (1979). In: Elke Schubert (Hrsg.): Günther Anders antwortet. Interviews und Erklärungen. Tiamat, Berlin, 1987, S. 42.
  13. Dieter E. Zimmer: Der Bomberpilot von Hiroshima. Claude Eatherly oder Die Suche nach dem einen Gerechten In: Die Zeit, Nr. 35, 28. August 1964, Feuilleton, S. 9–10. Eatherly: Unschuld und Sühne, In: Der Spiegel, Nr. 18, 29. April 1964, Bücher, S. 122–125.
  14. G. Anders, interviewt von Mathias Greffrath (1979). In: Elke Schubert (Hrsg.): Günther Anders antwortet. Interviews und Erklärungen. Tiamat, Berlin, 1987, S. 41.
  15. U.a. fand Anders hier den Begriff des Menschenparkes zur Bezeichnung der eindringlichen realistischen Darstellung von Menschen im Werk John Galsworthys, vergl. Kafka: Pro und Contra. Die Prozeß-Unterlagen, C. H. Beck, 1972 (Beck'sche Schwarze Reihe 21), Seite 10; wieder in Mensch ohne Welt, C. H. Beck ²1993 (Beck'sche Reihe 1011), Seite 47.
  16. mit diesem Titel erschienen bei Pahl-Rugenstein, Köln 1968. Auszüge daraus und zusätzliche Kritik in G. A.: Eskalation des Verbrechens. Aus einem ABC der amerikanischen Aggression gegen Vietnam. Union, Berlin (Ost) 1971
  17. Mein Judentum, Hrsg. Hans Jürgen Schultz, Stuttgart (Kreuz Verlag) 1978, 4. Aufl. 1991, ISBN 3-7831-1055-6, S. 60–76 bzw. München (dtv Sachbuch 10632) 1986, ISBN 3-423-10632-8, S. 50–66
  18. München (Beck’sche Reihe 202) 1979, 3. Auflage 1996, ISBN 3-406-41744-2.
  19. Stephan Steiner: Rückkehr des Verworfenen. Zu Schriften aus dem Nachlass von Günther Anders. In: Wespennest. Zeitschrift für brauchbare Texte und Bilder Nr. 180, Wien, Mai 2021, S. 100–103, hier: 102.
  20. Günther Anders’ Grabstelle. Eintrag unter friedhoefewien.at, abgerufen am 11. November 2022
  21. Die atomare Drohung, S. 137
  22. Einladung: „Erstmalige Verleihung“ im Nachlass Günther Anders, Österreichisches Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek (ÖLS 237/04)
  23. Der Anders Preis. Abgerufen am 29. Mai 2021 (deutsch).
  24. Volltext und Abbildungen der vergriffenen Ausgabe in der Internet-Ausgabe der Zeitschrift FORVM.
  25. Helmut Mauró: Günther Anders' Buch „Der Emigrant“. Abgerufen am 28. November 2021.


Wikiquote: Günther Anders – Zitate

Rezeption in Frankreich

Personendaten
NAME Anders, Günther
ALTERNATIVNAMEN Stern, Günther
KURZBESCHREIBUNG deutsch-österreichischer Philosoph und Essayist
GEBURTSDATUM 12. Juli 1902
GEBURTSORT Breslau
STERBEDATUM 17. Dezember 1992
STERBEORT Wien

На других языках


- [de] Günther Anders

[en] Günther Anders

Günther Anders (born Günther Siegmund Stern, 12 July 1902 – 17 December 1992) was a German-Austrian Jewish[lower-alpha 1] émigré, philosopher, essayist and journalist.

[ru] Андерс, Гюнтер

Гюнтер Андерс (нем. Günther Anders; 12 июля 1902, Бреслау, под именем Гюнтер Штерн (нем. Günther Stern), Германская империя — 17 декабря 1992, Вена, Австрия) — австрийский писатель, философ немецко-еврейского происхождения, активный участник всемирного антиядерного и антивоенного движения.



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