Tankred Dorst (* 19. Dezember 1925 in Oberlind, Landkreis Sonneberg, Thüringen; † 1. Juni 2017 in Berlin[1]) war ein deutscher Dramatiker und Schriftsteller. Er lebte seit seiner Studentenzeit lange Zeit in München-Schwabing, wo er in den 1950er Jahren begann, für das Marionettentheater Kleines Spiel zeitkritische Stücke zu schreiben, die zum Teil heute noch aufgeführt werden. Ab den 1960er Jahren wurde er durch seine Drehbücher und als Regisseur auch international bekannt. Ab 2013 lebte er mit seiner Ehefrau Ursula Ehler-Dorst in Berlin.
Leben
Tankred Dorst wuchs in einer wohlhabenden Oberlinder Bürgerfamilie auf, die am Ort die Maschinenfabrik vormals Georg Dorst besaß. Noch als Schüler des Sonneberger Realgymnasiums wurde er 1943 zum Reichsarbeitsdienst und 1944 zur Wehrmacht einberufen. Nach kurzer Ausbildungszeit kam er als Soldat an die Westfront und geriet dort in Kriegsgefangenschaft. Das Ende des Zweiten Weltkrieges erlebte er in Gefangenenlagern in England und den USA. Als er Ende 1947 aus der Gefangenschaft nach Westdeutschland entlassen wurde, gehörten Oberlind und Sonneberg schon seit zwei Jahren zur sowjetischen Besatzungszone. Die Maschinenfabrik war enteignet worden und die Familie vor weitergehenden Repressalien zu Verwandten nach Westdeutschland geflohen.
Tankred Dorst holte in Lüdinghausen das Abitur nach und begann 1950 in Bamberg mit dem Studium der Philologie und Kunstgeschichte. 1951 zog er nach München, wo er bis 1959 außerdem noch Theaterwissenschaften studierte. Praktische Erfahrungen im Stückeschreiben und in der Theaterarbeit sammelte er am studentischen Marionettenstudio „Das kleine Spiel“, für das er bis 1959 sechs Marionettenstücke schrieb.
Die ersten großen Theaterstücke kamen 1960 in Lübeck und Mannheim mit Erfolg auf die Bühne. Diesen Erfolg setzte er bis zuletzt in einer Vielzahl von Bühnenwerken und einigen Verfilmungen vor internationalem Publikum fort. Schon 1963 wurde er als Mitglied in die Bayerische Akademie der Schönen Künste aufgenommen. Ab 1971 war er Mitglied des PEN-Zentrums Deutschland. Während der Arbeit am Fernsehfilm Sand lernte er Ursula Ehler kennen, die ihn ab Anfang der 1970er Jahre durch sein Leben und Werk als Lebensgefährtin und Co-Autorin begleitete. Ab Mitte der 1970er Jahre gab er fast alle Veröffentlichungen mit seiner Frau gemeinsam heraus.
Auch im Ausland fand er zunehmend Beachtung. So erhielt er z. B. 1973 Gastprofessuren in Australien und Neuseeland. 1973 gründete er in München gemeinsam mit Martin Gregor-Dellin, Jürgen Kolbe, Michael Krüger, Fritz Arnold, Paul Wühr, Inge Poppe, Christoph Buggert, Günter Herburger und Peter Laemmle die erste genossenschaftlich organisierte Autorenbuchhandlung. 1978 wurde er zum Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt berufen und 1983 in die Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz aufgenommen[2]. 1992war er Mitbegründer der Bonner Biennale. Danach war er auch Teil der künstlerischen Leitung dieses Theaterfestivals, das ab 2004 unter dem Namen Neue Stücke aus Europa vorwiegend am Staatstheater Wiesbaden stattfand. Im Wintersemester 2003/2004 nahm er unter dem Titel Sich im Irdischen zu üben die Frankfurter Poetikdozentur an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main wahr.
Dorst hat bei den Richard-Wagner-Festspielen 2006 in BayreuthRichard WagnersRing des Nibelungen neu inszeniert. Er sprang damit für den dänischen Filmregisseur Lars von Trier ein, der die Regie 2004 zurückgegeben hatte. Der deutsche Dramatiker, der im Alter von 78Jahren erstmals bei einer Oper Regie führte, war einer der am häufigsten gespielten Autoren der Nachkriegszeit auf deutschsprachigen Bühnen.
Einmal jährlich wird der nach Dorst benannte Tankred-Dorst-Preis der Drehbuchwerkstatt München am Filmfest München für das beste Drehbuch mit einem Preisgeld von 3.000 Euro verliehen.[3] Dorst selbst war in der unabhängigen Jury von 1999 bis 2005 siebenmal Mitglied.
Dorst starb am 1. Juni 2017 im Alter von 91 Jahren.[1] Sein Grab befindet sich auf dem Kirchfriedhof von St. Georg in München-Bogenhausen.[4][5]
Werke
Dramen
1960: Die Kurve; Uraufführung an den Bühnen der Hansestadt Lübeck, Regie: Hansjörg Utzerath
1960: Gesellschaft im Herbst; Uraufführung im Nationaltheater Mannheim, Regie: H. J. Klein
1961: Große Schmährede an der Stadtmauer; Uraufführung an den Bühnen der Hansestadt Lübeck, Regie: U. Brecht
1964: Die Mohrin; Uraufführung an den Städtischen Bühnen Frankfurt, Regie: G. Klingenberg
1968: Toller; Uraufführung am Staatstheater Stuttgart, Regie: Peter Palitzsch
1973: Eiszeit; Uraufführung am Schauspielhaus Bochum, Regie: Peter Zadek
1975: Auf dem Chimborazo; Uraufführung am Schlossparktheater Berlin, Regie: D. Dorn / 1976 Neufassung und Erstaufführung an den Münchner Kammerspielen, Regie: H. Clemen
1977: Goncourt oder Die Abschaffung des Todes (zusammen mit Horst Laube); Uraufführung an den Städtischen Bühnen Frankfurt am Main, Regie: P. Palitzsch
1980: Die Villa; Uraufführung am Düsseldorfer Schauspielhaus/Württembergischen Staatstheater Stuttgart, Regie: Jaroslav Chundela/G. Krämer
1981: Merlin oder Das wüste Land; Uraufführung am Düsseldorfer Schauspielhaus, Regie: J. Chundela
1985: Heinrich oder die Schmerzen der Phantasie; Uraufführung am Düsseldorfer Schauspielhaus, Regie: V. Hesse
1986: Ich, Feuerbach; Uraufführung am Bayerischen Staatsschauspiel München, Regie: V. Hesse
1987: Der verbotene Garten - Fragmente über D’Annunzio; Uraufführung am Stadttheater St. Gallen, Regie: Jaroslav Gillar
1987: Parzival; Uraufführung am Thalia Theater Hamburg, Regie: Robert Wilson / 1990 Neufassung und Uraufführung an den Städtischen Bühnen Frankfurt am Main, Regie: A. Brill
1988: Der verbotene Garten; deutsche Erstaufführung an der Freien Volksbühne Berlin, Regie: H. Neuenfels
1988: Korbes; Uraufführung am Deutschen Schauspielhaus Hamburg, Regie: Wilfried Minks
1988: Grindkopf; Uraufführung an den Städtischen Bühnen Frankfurt am Main, Regie: A. Brill
1990: Karlos; Uraufführung an den Münchner Kammerspielen, Regie: D. Dorn
1990: Wie im Leben wie im Traum
1992: Fernando Krapp hat mir diesen Brief geschrieben; Uraufführung am Wiener Burgtheater (Akademietheater), Akademietheater, Regie: Wilfried Minks
1994: Herr Paul; Uraufführung am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg, Regie: Jossi Wieler
1994: Nach Jerusalem; Uraufführung am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg, Regie: M. Hartmann
1995: Die Schattenlinie; Uraufführung am Burgtheater Wien, Akademietheater, Regie: H. Hollmann
1996: Die Geschichte der Pfeile (ein Triptychon); Regie: Torsten Fischer
1997: Die Legende vom armen Heinrich; Uraufführung an den Münchner Kammerspielen, Regie: J.-D. Herzog
1997: Harrys Kopf; Uraufführung am Düsseldorfer Schauspielhaus, Regie: Wilfried Minks
1997: Was sollen wir tun; Uraufführung am Schauspiel Bonn/Staatsschauspiel Dresden, Regie: Antoine Uitdehaag / Tobias Wellemeyer
1998: Wegen Reichtum geschlossen (eine metaphysische Komödie); Uraufführung am Bayerischen Staatsschauspiel München, Regie: A. Lang
1999: Große Szene am Fluß; Uraufführung am Bayerischen Staatsschauspiel München, Regie: K. Emmerich
2001: Kupsch (Monolog); Uraufführung am Deutschen Theater Göttingen, Regie: B. von Poser
2002: Die Freude am Leben; Uraufführung am Schauspiel Bonn, Regie: H. Clemen
2002: Othoon (ein Fragment); Uraufführung am Schauspiel Frankfurt, Regie: A. Brill
2004: Purcells Traum von König Artus. Stück mit Musik nach Henry Purcell. Uraufführung am Hessischen Staatstheater Wiesbaden, Regie: David Mouchtar-Samorai
2005: Die Wüste; Uraufführung am Theater Dortmund, Regie: H. Schmidt-Rahmer
2007: Ich bin nur vorübergehend hier - Botschaften aus dem Niemandsland; Uraufführung am Niedersächsischen Staatstheater Hannover, Regie: J. Hölscher
2008: Künstler; Uraufführung am Theater Bremen, Regie: Christian Pade
2008: Prosperos Insel
2016: Das Blau in der Wand; Uraufführung 8. Juni 2016 Ruhrfestspiele, Kleines Theater, Recklinghausen[6]
Marionettentheater
1953 und 1964: Aucassin und Nicolette
1954 Rhampsinit oder Die ganz außerordentliche Schwierigkeit eines Diebes habhaft zu werden[7]
1963: Rameaus Neffe (Diderot übersetzt und bearbeitet); Uraufführung an den Städtischen Bühnen Nürnberg, Regie: R. Lansky
1964: Der gestiefelte Kater oder Wie man das Spiel spielt (nach Ludwig Tieck); Uraufführung am Deutschen Schauspielhaus Hamburg, Regie: H. Lietzau
1966: Der Richter von London (nach Thomas Dekker); Uraufführung an den Städtischen Bühnen Essen, Regie: J. Fontheim
1967: Der Geizige (Molière übersetzt und bearbeitet); Erstaufführung am Württembergischen Staatstheater Stuttgart, Regie: Peter Zadek
1967: Der Preispokal (Sean O’Casey übersetzt und bearbeitet); Erstaufführung an den Wuppertaler Bühnen (unter dem Titel: Der Pott), Regie: Peter Zadek
1968: Der eingebildete Kranke (Molière übersetzt und bearbeitet); Erstaufführung am Staatstheater Kassel, Regie: K. Braak
1972: Kleiner Mann, was nun? (nach dem Roman von Hans Fallada); Uraufführung am Schauspielhaus Bochum, Regie: Peter Zadek
1978: George Dandin (Molière übersetzt und bearbeitet); Erstaufführung bei den Bad Hersfelder Festspielen, Regie: G. Heinz
1985: Der Bürger als Edelmann (Molière übersetzt); Erstaufführung am Deutschen Schauspielhaus Hamburg, Regie: Jérôme Savary
Verfilmungen
1960: Die Kurve (Fernsehfilm, Regie: Peter Zadek)
1969: Rotmord (Fernsehfilm nach Toller, Regie: Peter Zadek)
1971: Sand (Fernsehfilm, Regie: Peter Palitzsch)
1975: Eiszeit (Spielfilm, Regie: Peter Zadek)
1976: Dorothea Merz (zweiteiliger Fernsehfilm, Regie: Peter Beauvais)
1978: Klaras Mutter (Fernsehfilm in eigener Regie)
1980: Mosch (Fernsehfilm in eigener Regie)
1983: Eisenhans (Spielfilm in eigener Regie)
Libretti
1960: La Buffonata. Ballet Chanté. Musik: Wilhelm Killmayer. Uraufführung 1961 Heidelberg (Städtische Bühnen), Regie: H. Neugebauer
1962/63: Yolimba oder die Grenzen der Magie. Musikalische Posse. Musik: Wilhelm Killmayer. Uraufführung 1964 Wiesbaden (Hessisches Staatstheater), Regie: H. Neugebauer
1969: Die Geschichte von Aucassin und Nicolette. Oper. Musik: Günter Bialas. Uraufführung 1969 München (Bayerische Staatsoper)
2001: Die Legende vom armen Heinrich. Oper. Musik: Ernst August Klötzke. Uraufführung 2011 Wiesbaden (Hessisches Staatstheater), musikalische Leitung: Enrico Delamboye, Regie: Iris Gerath-Prein
Theaterstücke für Kinder
1982: Ameley, der Biber und der König auf dem Dach; Uraufführung am Burgtheater Wien, Regie: P. M. Preissler
1994: Wie Dilldapp nach dem Riesen ging; Uraufführung am Deutschen Schauspielhaus Hamburg, Regie: Götz Loepelmann
2000: Don’t eat little Charlie! Uraufführung am Royal National Theatre London / Erstaufführung in Deutschland als Friss mir nur mein Karlchen nicht! an den Städtischen Bühnen Heidelberg, Regie: W. M. Bauer
2000: König Sofus und das Wunderhuhn; Uraufführung am Thalia Theater Halle, Regie: P. Mader
Prosa-Stücke
1957: Geheimnis der Marionette; 1. Veröffentlichung
1959: Auf kleiner Bühne – Versuch mit Marionetten; Essays
1962: Die Bühne ist der absolute Ort; Essay
1964: Herausgeber der collection theater
1976: Dorothea Merz; Fragmentarischer Roman
1978: Klaras Mutter; Erzählung
1980: Mosch; Das Buch zum Film
1984: Die Reise nach Stettin; Erzählung
1985: Band 1 der Werkausgabe erscheint
1986: Grindkopf; Libretto für Schauspieler
1986: Der nackte Mann; Prosatext
2000: Ich will versuchen Kupsch zu beschreiben; Künstlerbuch in der Raamin-Presse Roswitha Quadflieg
2001: Die Freude am Leben. Kupsch; Stücke und Materialien, edition suhrkamp theaterreihe
2001: Merlins Zauber; Suhrkamp-Verlag
2002: Othoon. Stück und Materialien; edition suhrkamp theaterreihe
2009: Glück ist ein vorübergehender Schwächezustand; Erzählung
2010: Ich soll versuchen den eingebildeten Kranken zu spielen
Hörspiele
1969: Toller, mit Helmut Qualtinger. Funkfassung und Realisation: Tankred Dorst/Helmut Qualtinger. Bayerischer Rundfunk/Radio Bremen 1969
1974: Auf dem Chimborazo – Regie: Ulrich Gerhard (Hörspiel (Kunstkopf) – BR/RIAS Berlin/SDR)
1987: Korbes; Produktion Süddeutscher Rundfunk
1992: Nach Jerusalem – Regie: Otto Düben (Hörspiel – SDR)
1993: Merlin oder das wüste Land – Regie: Walter Adler (Hörspiel – MDR)
2005: Parzivals Weg – Regie: Beate Andres, Mitwirkende: Marc Hosemann, Therese Affolter, Max Hopp, Judith Engel, Herbert Fritsch, Jürgen Holtz, Christine Oesterlein, Edgar Selge, Tankred Dorst, Martin Engler, Katharina Burowa u.a., 61 Minuten, DLR.
Werkausgabe
Erschienen bei Suhrkamp in Frankfurt, 1985 bis 2008
Band 1: Deutsche Stücke. 1985, ISBN 3-518-03209-7
Band 2: Merlin oder Das wüste Land. 1985, ISBN 3-518-03558-4
Band 3: Frühe Stücke. 1986, ISBN 3-518-03009-4
Band 4: Politische Stücke. 1987, ISBN 3-518-02658-5
Band 5: Wie im Leben wie im Traum und andere Stücke. 1990, ISBN 3-518-40217-X
Band 6: Die Schattenlinie und andere Stücke. 1995, ISBN 3-518-40719-8
Band 7: Die Freude am Leben und andere Stücke. 2002, ISBN 3-518-41331-7
Band 8: Prosperos Insel und andere Stücke. 2008, ISBN 978-3-518-42039-3
Stipendien und Auszeichnungen
1960: Stipendium des Gerhart-Hauptmann-Preises / Preis des Nationaltheaters Mannheim (für Gesellschaft im Herbst)
2014: Brücke Berlin Initiativpreis, gemeinsam mit Manfred Beilharz für ihr Projekt Neue Stücke aus Europa
Literatur
Horst Laube (Hrsg.): Werkbuch über Tankred Dorst. Suhrkamp, Frankfurt 1974, ISBN 3-518-00713-0
Günther Erken (Hrsg.): Tankred Dorst. Suhrkamp, Frankfurt 1989, ISBN 3-518-38573-9
Ioana Craciun: Historische Dichtergestalten im zeitgenössischen deutschen Drama. Untersuchungen zu Theaterstücken von Tankred Dorst, Günter Grass, Martin Walser und Peter Weiss. Universitätsverlag Winter, Heidelberg, 2008. Darin: „Der erste sozialistische Jesus von Nazareth“. Zur Gestalt Ernst Tollers in Tankred Dorsts Revolutionsdrama 'Toller', S. 69–100; „Ich bin ein Kind der Revolution.“ Zur Gestalt Heinrich Heines in Tankred Dorsts Theaterstück 'Harrys Kopf', S. 245–275.
Wolfgang J. Ruf: Wer lebt, stört - Zum Abschied von Tankred Dorst. In: Zs. MUT Nr. 591/Juli/August 2017, Abschlussausgabe ISSN 0027-5093, S. 134–139.
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