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Dieter Wellershoff (* 3. November 1925 in Neuss; † 15. Juni 2018[1] in Köln) war ein deutscher Schriftsteller. Sein vielseitiges Werk umfasst Romane, Erzählungen, Novellen, Hörspiele, Bühnenstücke, Drehbücher und Lyrik. Begleitet werden diese Arbeiten von zahlreichen Essays zu literarischen, kunst- und zeitgeschichtlichen Themen. Mit autobiographischen Werken hat er zeitgeschichtliche Dokumente geschaffen.

Dieter Wellershoff (1995)
Dieter Wellershoff (1995)
Signatur Dieter Wellershoff, 1972
Signatur Dieter Wellershoff, 1972

Stark geprägt durch die Erfahrung des zufälligen Sterbens und Überlebens als junger Soldat im Zweiten Weltkrieg, stellte Wellershoff in seinen Schriften immer wieder scheinbare Gewissheiten in Frage. Als Sinn seines Schreibens sah er „die Erweiterung und Vertiefung der Wahrnehmung des Lebens.“[2] „Eine ‚Probebühne des Lebens‘ sollen seine fiktionalen Geschichten sein, ein literarischer Simulationsraum, in dem man sich riskante Karrieren quasi gefahrlos ansehen kann, ohne den oft tödlichen Preis der Protagonisten dafür zahlen zu müssen.“[3]

Neben der Anerkennung, die Wellershoff als Schriftsteller erfahren hat, hat er sich den Ruf eines bedeutenden Literaturtheoretikers und Lektors im wissenschaftlichen und literarischen Bereich erworben.


Leben



Bis 1945


Autogrammstunde anlässlich eines Empfangs der Stadt Köln zu seinem 90ten Geburtstag (2016)
Autogrammstunde anlässlich eines Empfangs der Stadt Köln zu seinem 90ten Geburtstag (2016)

Dieter Wellershoff wurde 1925 als ältester Sohn von Walter und Cläre Wellershoff geboren. 1930 zog die Familie nach der Geburt seines Bruders Hans-Walter von Neuss nach Grevenbroich am Niederrhein, wo Dieter aufwuchs und 1932 eingeschult wurde. Sein Vater war in Neuss und Grevenbroich Kreisbaumeister. In seinen Erinnerungen Ein Allmachtstraum und sein Ende berichtet Wellershoff von einem geordneten Leben in einem Beamtenhaushalt, in dem die Mutter „für das Haus und das gesellschaftliche Leben zuständig“ war.[4] Im Zweiten Weltkrieg wurde er zum Reichsarbeitsdienst eingezogen und meldete sich 1943 freiwillig zur Panzerdivision Hermann Göring.[5] Kurz danach starb seine Mutter an einer Gallenoperation. Am 13. Oktober 1944 wurde er in Litauen schwer verwundet.[6] Den Kriegswinter 1944/45 verbrachte er in der zu einem Lazarett umfunktionierten Heilingbrunnerschule in Bad Reichenhall.[7] 1945 setzte er sich mit anderen Soldaten versprengter Truppenteile Richtung Westen ab, um nicht in sowjetische Kriegsgefangenschaft zu kommen. Es gelang ihnen, in US-amerikanische Kriegsgefangenschaft zu gehen. Seine Kriegserfahrungen verarbeitete er in dem autobiographischen Buch Der Ernstfall (1997) und in der Audio-CD Schau dir das an, das ist der Krieg. Dieter Wellershoff erzählt sein Leben als Soldat (2010).

Im Berliner Bundesarchiv fand sich 2009 eine auf seinen Namen erstellte Mitgliedskarte der NSDAP, die ihn unter der Mitgliedsnummer 10.172.531 führte. Ein zugehöriger unterschriebener Aufnahmeantrag fand sich nicht.[8] Wellershoff sagte dazu: „… im Gegensatz zur Wehrmacht, die ich als Jugendlicher wie fast alle meine Altersgenossen in den ersten Kriegsjahren idealisierte, hatte ich immer eine an Verachtung grenzende Abneigung gegen die ‚braunen Bonzen‘ der Partei. … Während dieser ganzen Zeit wäre es für mich ein völlig abwegiger Gedanke gewesen, in die Partei einzutreten.“ Er betonte, nie einen Aufnahmeantrag gestellt zu haben.[9]


1945 bis 1980


Nach Kriegsende holte er sein Abitur nach und studierte ab 1947 an der Universität Bonn Germanistik, Kunstgeschichte und Psychologie. 1952 heiratete er seine Studienkollegin Maria von Thadden. Ebenfalls 1952 veröffentlichte er seine sehr beachtete Dissertation über Gottfried Benn, dessen gesammelte Werke er ab 1958 zusammen mit seiner Frau Maria herausgab. Von 1952 bis 1955 arbeitete er als Redakteur bei der vom Verband Deutscher Studentenschaften herausgegebenen Deutschen Studentenzeitung und schrieb ein Theaterstück, mehrere Radio-Features und Hörspiele. Seine erste Literaturauszeichnung – den „Hörspielpreis der Kriegsblinden“ – erhielt er für Minotaurus; das Stück hat die zu dieser Zeit noch verbotene Abtreibung (§ 218 StGB) zum Thema.

Im Jahr 1959 wurde Wellershoff vom Verlag Kiepenheuer & Witsch gebeten, ein wissenschaftliches Programm für den Verlag zu entwickeln. Es entstanden zwei Schriftenreihen, „die ‚Neue Wissenschaftliche Bibliothek‘ und die 'Studienbibliothek', eine in leuchtend gelben Einbänden, eine in leuchtend rot, durch die dann Generationen von Studenten der Wirtschaftswissenschaften, der Soziologie, der Psychologie, der Geschichte, der Literaturwissenschaft und Philosophie Grundlagenwissen ihrer Fächer erhielten. [...] Viele dieser 'Reader', insgesamt weit über 100, herausgegeben von Dieter Wellershoff in Zusammenarbeit mit bedeutenden Wissenschaftlern wie Jürgen Habermas, Hans-Ulrich Wehler, Alexander Mitscherlich oder René König, sind bis heute Standardwerke, durch die die Wissenschaften der jungen Bundesrepublik nach der Düsternis der Nazizeit wieder internationales Niveau erreichten,“ schrieb der Verleger Helge Malchow und fuhr fort: „Neben dieser Fulltime-Aktivität macht Dieter Wellershoff den Verlag in kürzester Zeit zu einer der ersten Adressen für neue deutsche Literatur, die K&W trotz des großen, aber singulären Heinrich Böll, dessen Bücher Dieter Wellershoff auch lektorierte, zuvor nicht gewesen war.“[10] Wellershoff holte junge Autoren wie Rolf Dieter Brinkmann, Nicolas Born und Günter Wallraff in den Verlag.

Wellershoff nahm ab 1960 an Tagungen der Gruppe 47 teil. 1965 initiierte er einen „neuen Realismus“. Die daraus hervorgegangene lockere Gruppierung wurde unter dem Namen „Kölner Schule des Neuen Realismus“ bekannt. Mitte der 1960er Jahre reduzierte Wellershoff seine Verlagsarbeit und begann eigene Romane zu schreiben. Es entstanden z. B. Ein schöner Tag (1966, das Porträt einer Familie, zwischen Konflikten, fehlender Kommunikation und Scheinidylle), Einladung an alle (1972, die multi-perspektivische Schilderung einer Verbrecherjagd als Massenunterhaltung und einsamem Existenzkampf) und Die Sirene (1980, die Geschichte einer ungewöhnlichen Verführung oder Selbstverführung mittels einer geheimnisvollen Telefonstimme).

Wellershoff entwickelte parallel zu seinem literarischen Werk seine Literaturtheorie. „Man hatte hier nicht nur einen ungemein produktiven Autor vor sich, der Hörspiele, Drehbücher, Erzählungen und Romane schrieb, sondern auch einen ambitionierten Literaturwissenschaftler, der für einen Verlag nebenher Bücher lektorierte und sich regelmäßig mit Erörterungen zur Literaturgeschichte zu Wort meldete.“[11]


Nach 1981


Seit 1981 lebte er als freier Schriftsteller in der Kölner Südstadt. Mit Der Sieger nimmt alles (1983) schrieb er auf Basis der Erfahrungen seines jüngeren Bruders, der Unternehmer geworden war, einen kritischen Wirtschaftsroman. Es geht darin um die fiktionale Figur „Ulrich Vogtmann, ein[en] Aufsteiger par excellence, geprägt durch den Zweiten Weltkrieg und den Umbruch der Werte in der Nachkriegszeit“, der fasziniert ist „vom Allmachtstraum des großen Erfolgs. Er nimmt das Leben als Herausforderung, vertraut auf seine Vitalität, seinen Scharfsinn, sein Glück. Rücksichtslos verfolgt er sein Ziel, treibt seine Umgebung in den Ruin und sich selbst in die totale Isolation.“[12] Sein jüngerer Bruder starb wenige Jahre später an Leukämie. Wellershoff schildert dessen erschütterndes Sterben in dem autobiografischen Buch Blick auf einen fernen Berg (1991).

Immer wieder schrieb Wellershoff autobiographische Texte wie Die Arbeit des Lebens (1985) oder das schon erwähnte Buch Der Ernstfall (1995) zu seinen Kriegserfahrungen. Hinzu kommen Texte über Literatur wie Der Roman und die Erfahrbarkeit der Welt (1988) oder Das geordnete Chaos. Essays zur Literatur oder Der verstörte Eros. Zur Literatur des Begehrens (2001). Einen literaturtheoretischen Schwerpunkt setzte er mit einer Vorlesungsreihe an der Frankfurter Universität, die unter dem Titel Das Schimmern der Schlangenhaut. Existentielle und formale Aspekte des literarischen Textes. Frankfurter Poetik-Vorlesungen (1996) erschien.

Dieter Wellershoff (rechts) bei einer Aufführung der Verfilmung seines Romans „Der Liebeswunsch“, mit den Schauspielerinnen Jessica Schwarz, Barbara Auer u. a.
Dieter Wellershoff (rechts) bei einer Aufführung der Verfilmung seines Romans „Der Liebeswunsch“, mit den Schauspielerinnen Jessica Schwarz, Barbara Auer u. a.

Einen besonderen Erfolg bei der Kritik und beim Publikum erzielte er 2000 mit dem Bestseller-Roman Der Liebeswunsch, in dem es um das Beziehungsgeflecht von Freundschaft, Sehnsüchten, aber auch Kränkungen zweier gutbürgerlicher Paare geht, das durch den Liebeswunsch einer jungen Frau, die ihrem als falsch empfundenen Leben entkommen möchte, aus dem scheinbaren Gleichgewicht gerissen wird – mit fatalen Folgen. Das Buch wurde 2006 verfilmt.

Im Juni 2007 griff Wellershoff mit einem Beitrag in der FAZ[13] in den Streit um die Kölner DITIB-Moschee ein und formulierte in teilweiser Abgrenzung von den kritischen Positionen Ralph Giordanos eigene Vorbehalte gegen den umstrittenen Moscheebau.

Hochbetagt schrieb Wellershoff weiter, einen Roman über einen Pfarrer, dem die Glaubensgewissheit abhandengekommen ist (Der Himmel ist kein Ort (2009)), oder er lud zu einem individuellen Blick auf die Kunst ein, wie in Was die Bilder erzählen. Ein Rundgang durch mein imaginäres Museum (2013).

Er reflektierte in der Audio-CD Ans Ende kommen. Dieter Wellershoff erzählte über Altern und Sterben (2014) über das eigene Älterwerden, den eigenen Tod, und zeigte sich als jemand, der neugierig, bis zum Ende hin, das Leben beobachten, erforschen und verstehen will. Dieses Werk wurde „Hörbuch des Jahres 2014“; viele seiner anderen Werke vorher und das Gesamtwerk wurden ebenfalls ausgezeichnet. Sein Werk wurde in 15 Sprachen übersetzt.

Grab auf dem Friedhof Melaten (Juni 2018)
Grab auf dem Friedhof Melaten (Juni 2018)

Wellershoff starb im Alter von 92 Jahren in seiner Heimatstadt Köln. Am 27. Juni 2018 wurde er auf dem Kölner Zentralfriedhof Melaten (Flur 64a Nr. 227/228) beigesetzt.


Berufungen


Wellershoff erhielt zahlreiche Berufungen als Lektor, Gastdozent und Writer in Residence an in- und ausländischen Hochschulen. Er war Mitglied der Akademie der Wissenschaften und der Literatur in Mainz[14] und des PEN-Zentrums Deutschland. Die Stadt Köln richtete 2018 zusammen mit dem Literaturhaus Köln zwei Dieter-Wellershoff-Stipendien ein, bei denen jährlich zusammen 24.000 Euro zur Förderung Kölner Autoren vergeben werden.[15]


Familie


Seine Frau Maria Wellershoff (1922–2021), geb. von Thadden, war eine Schwester von Adolf von Thadden (1921–1996) und Halbschwester von Elisabeth von Thadden (1890–1944) und Reinold von Thadden (1891–1976), dem Gründer des Deutschen Evangelischen Kirchentages. Seine aus dieser Ehe stammenden Töchter Irene (* 1954) und Marianne Wellershoff (* 1963) sind ebenfalls als Autorinnen tätig; der Sohn Gerald Wellershoff ist Arzt.


Zitate



Werk


Dieter Wellershoff in seiner Kölner Wohnung (2014)
Dieter Wellershoff in seiner Kölner Wohnung (2014)

„Wie die meisten Schriftsteller seiner ‚skeptisch‘ genannten Generation ist auch Wellershoff durch den Zweiten Weltkrieg geprägt. Doch anders als Böll (den er als Lektor betreute) leitete er daraus nie die Verpflichtung zum mahnenden Fingerzeig ab. Wellershoff wollte – ähnlich wie die Vertreter des Nouveau Roman – lieber zeigen, was ist, als zu erklären, wie es sein sollte. ‚Literatur war für mich weder ein Transportmittel für moralische Erziehungsziele oder politische Ideen noch das dazugehörige Gegenteil eines exklusiven, von der Realität abgekoppelten Sprach- und Formenspiels‘.“[20] Jede Ideologie ist Wellershoff nach dem Massenwahnsinn des Nationalsozialismus zutiefst verdächtig und alles Moralisieren auch. Der vorurteilsfreie individuelle Blick auf die Lebenswirklichkeit zählt, das Schreiben als Existenzform, um die Welt in ihrer Fremdheit zu erkunden und dabei seinen Platz in ihr zu suchen. Kunst als verspielter Selbstzweck oder transzendente Sinnstiftung hat da keinen Platz.

Alles kann in den Romanen und Erzählungen von Wellershoff passieren, eine Sexszene schlägt unvermittelt in einen Totschlag um, der Leser muss gefasst sein „Selbstmörder, Mörder, Leute, die beruflich scheitern, Projektemacher, die in die Falle ihrer eigenen Fantasie gehen, andere, die stecken bleiben in einem falschen Leben“ zu treffen, merkte Dirk Knipphals an. Er sieht bei Wellershoff eine „Lebensverliebtheit“: „Es gibt in seinen Büchern auch einen Sog der Verführung zum Leben hin, dazu, dieses Spiel auf Leben und Tod als Herausforderung und Abenteuer zu begreifen“[18] – vermutlich könnte man sogar noch einen draufsetzen und sagen, dieses Spiel „zu begrüßen“. Ein Indiz für die „Lebensverliebtheit“ seien „die vielen amourösen Verwicklungen, die seine Romane und Erzählungen durchziehen“. Der Kritiker Marcel Reich-Ranicki bewertete die amourösen Verwicklungen in dem Roman Der Liebeswunsch wie folgt: „Ich habe selten erlebt – in unserer zeitgenössischen Literatur, dass Liebe so vergegenwärtigt wird“.[21]

Aber bei Wellershoff kann sich keine seiner Figuren „des Erreichten je sicher sein, es gibt bei ihm immer Punkte, die ihre Liebe und sogar ihr Leben von innen her bedrohen.“[18] In einer bemerkenswerten Parallelisierung der Kriegserfahrung Wellershoffs und der Geschichten, die er schreibt, führte Knipphals aus: „Man meint die Granate, die den 19-jährigen Wellershoff im Oktober 1944 bei einem sinnlosen Gegenangriff auf die russischen Stellungen schwer verletzte … in allen seinen Büchern noch pfeifen zu hören. Sie kann gleichsam ständig einschlagen, selbst noch … während eines ganz harmlosen Partygesprächs, eine Bemerkung genügt da manchmal, um eine ganze Ehe und damit ein ganzes Leben zu zerstören. … Wellershoff selbst hat das einmal als den 'vulkanischen' Gehalt seiner Bücher bezeichnet.“[18]

In einem Nachruf auf den Schriftsteller führt Werner Jung aus, dass für Wellershoff Literatur immer „gefährlich“ sein musste, wenn sie gut sein sollte, ansonsten bliebe sie triviale Konfektionsware, die sich zwar gut verkaufen und konsumieren ließe, aber dann auch restlos wieder verschwände, im besten Fall im und als Altpapier. „Literatur, die etwas taugt, ist gefährlich“, zitiert er Dieter Wellershoff, „denn sie rührt an die Sprengsätze der menschlichen Existenz. Sie kann gefährlich sein für den Leser, weil sie ihn mit Erfahrungen konfrontiert, die er in den Routinen und Begrenzungen seines alltäglichen Lebens gewöhnlich zu vermeiden versucht. Und sie ist vor allem gefährlich für den Autor, der sich [...] in ihrem Dienst auf eine Höllenfahrt begibt, dabei allerdings in ihr einen mächtigen Schutz genießt. Denn in ihr verwandelt er auch die Irrtümer, Niederlagen und Verletzungen seines Lebens in eine Erfahrung der Kompetenz.“[22]

„Dieter Wellershoff spitzt die Dinge zu, verschärft die Konflikte zu Existenzkrisen, in denen plötzlich etwas aufscheinen kann: eine intuitive Erkenntnis, die Einsicht, dass da etwas völlig verfahren ist, dass ein Lebensentwurf sich als Illusion herausstellt, dass die romantische Liebesvorstellung (du oder keine) eine schmerzliche Täuschung und die sich Prosperität zum Zweck setzende Biografieplanung vielmehr ein einziges grandioses Desaster gewesen ist. Für die Helden kommt diese Einsicht als Erfahrung jedoch meist zu spät. Nur wir, Autor wie Leser, haben das Glück, diese (oder noch andere) Erfahrungen zu machen und dann bereichert wieder aus dem Text ins wirkliche Leben zurückzukehren.“[22] schätzt Werner Jung die Wirkung auf Leser ein. Die Schilderungen existentieller Lebenskrisen in den Texten von Wellershoff, betont Jung, sage auch etwas über den Zustand gesellschaftlicher Befindlichkeiten aus und gäbe Aufklärung über das Leben selbst, das für uns im „Dunkel des gelebten Augenblicks“ geschehe, wie sich Ernst Bloch, auf dessen Formulierungen Wellershoff häufiger zurückgreift, ausgedrückt habe.

Wellershoff selbst schrieb 1968 mit Bezug auf seine Romane und Hörspiele: „Ich habe immer Menschen dargestellt, die in ihrem Verhalten, ihrem Selbstverständnis, ihrem Umweltbezug so gestört sind, dass sie in eine unabsehbare Krise hineingeraten, die alles verändern kann. Die gestörten sozialen Rollen, die labilen Umrisse der Person, die Brüche zwischen Innen- und Außenwelt sind die Stellen, wo neue Erfahrung entstehen kann.“ Und um neue und existentielle Erfahrung – gemacht mit den Mitteln der Literatur – ging es dem Schriftsteller, gegen Routine und Lebensangst, gegen ein schematisches, vorgestanztes Leben und Denken. Ohne Brüche und Störungen, da war er sich sicher, würde das Leben „in Gewohnheit“ erstarren, würde das Leben für sich selbst „taub werden“ und „erblinden“.[23]

Die neunbändige Wellershoff-Gesamtausgabe von 1996/2011 umfasst fast 8000 Seiten – ohne die Bücher, die er danach noch geschrieben hat.
Die neunbändige Wellershoff-Gesamtausgabe von 1996/2011 umfasst fast 8000 Seiten – ohne die Bücher, die er danach noch geschrieben hat.

Im Folgenden untersuchen Joke und Petra Frerichs das literarische Werk unter dem Motto „Leben braucht keine Begründung“: Dieter Wellershoff zeigt am Beispiel der Lebenswege seiner Protagonisten ein ganzes Spektrum an Lebensmöglichkeiten auf; vor allem aber: wie prekär die gesellschaftlichen Verhältnisse sind, in denen sie agieren. Da ist das praktische Leben, der Alltag, der Anpassung und Einsicht in das Notwendige erzwingt; da sind die Tugenden, die man durch Erziehung, Sozialisation und Gewohnheit erwirbt. Und da ist die Welt der Gefühle, der Liebe, der Sexualität, für die in den gewohnten Alltagsabläufen oft nicht genügend Zeit bleibt, so dass die Phantasien, Träume oder Sehnsüchte als ungelebtes Leben zurückkehren. Wellershoff zeigt, wie sie ihre Wirkung entfalten und beginnen, ein Eigenleben zu führen; wie sie als Verdrängtes und Unbewusstes fortleben und durch unvorhersehbare Ereignisse aktualisiert werden; inwieweit sie als menschliche Regungen Realität erlangen oder umgebogen werden und in Pathologien oder Aggressionen münden. In Wellershoffs Werken werden mögliche und widersprüchliche Handlungsoptionen aufgezeigt und als virtuelle Lebensentwürfe durchgespielt. Dadurch erweitert sich der Horizont unserer Wahrnehmungen und Einsichten. Man könnte von einem Grundthema Wellershoffs sprechen, dem er in allen möglichen Verzweigungen und Konstellationen nachspürt.

Gesellschaftliche und individuelle Krisen sind für Wellershoff der Normalfall. Krisensituationen enthalten dadurch einen besonderen Erkenntniswert, weil sie Erfahrungserweiterungen ermöglichen; gleichzeitig zeugen sie von den Gefährdungen, denen unser Dasein ausgesetzt ist. Ob sie zum Ausbruch kommen, ist eine Frage oft zufälliger Ereignisse und Konstellationen. Kontingenz wäre der passende Begriff, um die Grundsituation des Menschen in der modernen Gesellschaft zu charakterisieren: Es gibt immer mehr Möglichkeiten, als sich realisieren lassen. Die Menschen müssen eine Wahl treffen, und oft durchschauen sie die Umstände, unter denen sie handeln, nicht. Seine Figuren gehen oft in die Falle ihrer eigenen Phantasien, von Illusionen und Leidenschaften angetrieben, und häufig spielt der Zufall die entscheidende Rolle.

Wellershoff sieht in der Literatur ein Medium der Erweiterung und Vertiefung der Wahrnehmung unseres Lebens. In immer neuen Variationen spielt er die fragilen Lebenssituationen durch, denen seine Protagonisten ausgesetzt sind. Ihr Alltagsleben ist von Routinen, Gleichförmigkeit, Apathie, Wiederholung und Langeweile geprägt und sie versuchen, diesem Gehäuse der Hörigkeit (Weber) zu entkommen. Aber die meisten scheitern bei dem Versuch, aus ihrem Alltag auszubrechen. Wellershoff führt uns die Möglichkeit alternativer Lebenskonzepte vor und auch die Gründe für das Scheitern seiner Figuren: Gerade die moderne Gesellschaft mit ihren Freiheitsversprechen und Konsumangeboten weckt ein Übermaß an Ansprüchen und Wünschen, vor denen die Menschen in Phantasie- und Traumwelten flüchten, weil ihnen sehr oft die Mittel fehlen, ihre Sehnsüchte nach einem geglückten Leben zu verwirklichen. Dann enden sie wieder da, wo sie begannen: im Schutzraum der alltäglichen Gewohnheiten und Routinen, die ihnen immerhin ein Mindestmaß an Sicherheit und Vertrautheit bieten.[24]


Rezeption


Über die Jahre hat sich die Rezeption Wellershoffs deutlich gewandelt, im chronologischen Abriss die Entwicklung vom relativen Außenseiter des Literaturbetriebs zum zweifelsfrei anerkannten Schriftsteller:


Auszeichnungen und Ehrungen (Auswahl)



Publikationen



Als Autor



Als Herausgeber



Audio-CD



TV-Dokumentation



Verfilmungen



Literatur



Film- und Audiointerviews mit Wellershoff



Einzelnachweise


  1. Autor von "Der Liebeswunsch" Dieter Wellershoff ist tot. In: DER SPIEGEL. 15. Juni 2018, abgerufen am 15. Juni 2018.
  2. Literaturport: Dieter Wellershoff, abgerufen am 1. Mai 2017.
  3. Gisa Funk: Das doppelt belichtete Leben. In: FAZ, 29. Oktober 2007, Seite 34.
  4. Dieter Wellershoff: Werke, Band 3, Köln 1996, S. 83.
  5. Wellershoff war Mitglied der NSDAP. In: FAZ.net, 9. Juni 2009.
  6. Trauerrede von Helge Malchow auf Dieter Wellershoff
  7. Johannes Lang: Geschichte von Bad Reichenhall. Ph.C.W. Schmidt, Neustadt/Aisch 2009, S. 777
  8. Malte Herwig: Als wir jung waren. In: Die Zeit. 10. August 2009, abgerufen am 15. Dezember 2015.
  9. Dieter Wellershoff: Manipulationen im Untergang. Ein Blick auf die letzten Kriegsjahre. Gastbeitrag in Der Spiegel 25/2009, abgerufen am 19. Januar 2017.
  10. Trauerrede von Helge Malchow auf Dieter Wellershoff Kiepenheuer und Witsch, abgerufen am 29. Juni 2018
  11. Gisa Funk: Das doppelt belichtete Leben. In: FAZ, 29. Oktober 2007, S. 34.
  12. Randomhouse: Der Sieger nimmt alles. Abgerufen am 2. Mai 2017.
  13. Wofür steht die Kölner Moschee?
  14. Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz: Todesfälle 2018 abgerufen am 8. April 2019
  15. Stadt Köln: Dieter Wellershoff Stipendien, abgerufen am 22. Juli 2018.
  16. Verdichtetes Unheil in schnörkelloser Sprache. Deutschlandfunk, abgerufen am 30. April 2017
  17. Dieter Wellershoff: Das Schimmern der Schlangenhaut. Existentielle und formale Aspekte des literarischen Textes. Frankfurt am Main, 1996, Seite 7.
  18. Dirk Knipphals: Verführung zum Leben. auf: taz.de, abgerufen am 1. Mai 2017.
  19. Wellershoff zitiert nach Gabriele Ewenz und Werner Jung in der Einleitung von: Die ungeheure Vielfalt der Welt festhalten. Zu Wellershoffs 90tem Geburtstag herausgegeben von der Stadtbibliothek Köln. Verlag der Buchhandlung Klaus Bittner, Köln 2015. Seite 7
  20. Gisa Funk: Das doppelt belichtete Leben. In: FAZ, 29. Oktober 2007, S. 34.
  21. Marcel Reich-Ranicki im Literarischen Quartett, ohne Datumsangabe
  22. Werner Jung: Es ist wie es ist. Literatur, die Aufklärung über das Leben in unserer Gegenwart betreibt: Zum Tod des Schriftstellers Dieter Wellershoff. In: nd. Abgerufen am 29. Juni 2018
  23. Dieter Wellershoff: Die Bittgänger. Die Schatten. Hörspiele. Stuttgart 1968. Seite 92 f.
  24. Abschnitt nach Joke und Petra Frerichs. Petra ist Abschnittsautor (s. Literatur)
  25. R. Hinton Thomas: Der Schriftsteller Dieter Wellershoff. Interpretationen und Analysen. Köln 1975. Seite 11.
  26. B. Happekotte zu seiner Studie: Dieter Wellershoff, rezipiert und isoliert. Bern 1995. Zitiert nach Dieter Wellershoff. Begleitheft der Ausstellung der Stadt- und Universitätsbibliothek Frankfurt am Main. 17. Januar – 27. Februar 1996. Seite 80.
  27. Peter Henning: Am Ende eines langen Fluges. Eine Begegnung mit dem Kölner Schriftsteller Dieter Wellershoff, der am 3. November 90 Jahre alt wird. In: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 1. November 2015.
  28. Richard Kämmerling, Marc Reichwein: Jeder von uns braucht Erfahrungen des Scheiterns. In: Die Welt, 3. November 2015.
  29. Deutschlandfunk: Literatur war für ihn die Probebühne des Lebens, abgerufen am 2. Dezember 2018.


Commons: Dieter Wellershoff – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien
Personendaten
NAME Wellershoff, Dieter
KURZBESCHREIBUNG deutscher Schriftsteller
GEBURTSDATUM 3. November 1925
GEBURTSORT Neuss
STERBEDATUM 15. Juni 2018
STERBEORT Köln



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